Also lieb ich ihn - Roman
der Ruhe bringen konnte. (Später sollte sie sich wehmütig an diese Zeit erinnern, als sie ihn noch nicht ernst nahm.)
Eines Tages sagte Hannah, nachdem eine Frau namens Gwen vorbeigeschaut hatte – offenbar wollten sie und Oliver noch am gleichen Abend eine Bar in Downtown Crossing besuchen –: »Hoffentlich ist dir klar, dass es zu neunzig Prozent an deinem Akzent liegt.«
»Meinst du meinen Sex-Appeal?« Oliver lächelte. Bevor er ihr antwortete, hatte Hannah kurz gehofft, dass er womöglich gar nicht verstehen würde, worauf sie sich bezog. Beleidigt schien er allerdings nicht zu sein.
»So würde ich es nicht gerade nennen«, sagte Hannah. »Aber wenn du meinst.« Wenn er sie nicht verstanden und sie ihn darum nicht beleidigt hätte, wäre das Spiel für sie beendet gewesen. Doch die Tatsache, dass er sie verstanden und sie ihn trotzdem nicht beleidigt hatte, vorerst jedenfalls, stachelte sie an.
»Animalische Anziehungskraft«, sagte Oliver. »So könntest du es nennen.«
»Könnte ich.«
Hatten sie sich davor jemals unterhalten? Plötzlich schien das nie passiert zu sein. Seit vier Monaten saßen sie knapp drei Meter voneinander entfernt und hörten gegenseitig jedes Wort mit, doch ihr direkter Austausch beschränkte sich auf höfliche Banalitäten:
Bist du dem Regen entkommen? Schönes Wochenende!
Jetzt wurde ihr klar, er gräbt zwar alle an, aber er ist durchaus intelligent.
|226| »Im Grunde wirfst du gleich zwei Fragen auf«, sagte Oliver, »um beim Anfang zu bleiben. Ich bin sicher, du wirst noch viele weitere aufwerfen, so dass wir für die Klärung all dieser Fragen unser restliches Leben aufwenden müssen. Aber jetzt ist die drängendste Frage, ob ich zu Recht annehme, dass du dich selbst nicht zu jenen Frauen zählst, die sich von solchen Äußerlichkeiten – wie etwa ein Akzent – verführen lassen?«
»Ganz sicher nicht«, antwortete Hannah. »Die anderen zehn Prozent sind übrigens nichts als primitive Eroberungslust. Um deine zweite Frage vorwegzunehmen, richtig?«
»Du bist ja eine Hellseherin!«, rief Oliver. »Das hab ich längst geahnt. Eroberungslust klingt aber so, als würde ich Freiwild reißen, dabei bin ich so friedfertig.«
»Dann sagen wir, du behauptest dich«, sagte Hannah. »Als Schürzenjäger.«
»Gegen diesen Begriff habe ich nichts – der ist so schön antiquiert.«
»Mistkerl – wie findest du das?«
»Schwerenöter.«
»Da träumst du von.«
»Wenn ich schon ein Schürzenjäger sein soll«, sagte Oliver, »könntest du mir zugestehen, dass sich Frauen gern jagen lassen.«
»Na klar, und ein
Nein
bedeutet insgeheim immer
Ja
, das meinst du doch? Und wenn du im Zug neben einer attraktiven Frau sitzt, kannst du sie ruhig antatschen, denn sie wartet praktisch nur darauf?«
»
Nein
bedeutet nicht automatisch
Ja
«, antwortete Oliver. »Doch in deinem Fall wahrscheinlich eher als in vielen anderen. Ich bin sicher, dass hinter dieser strengen Erscheinung ein lebhaftes Herz schlägt.« Gegen ihren Willen fühlte sich Hannah geschmeichelt, bis er hinzufügte: »Vielleicht das einer Wüstenspringmaus.«
|227| Hatte er etwa vier Monate lang darauf gewartet, dass sie mit ihm spricht? Hatte er mit ihr sprechen
wollen
? Nein. Dafür ist er zu großspurig – hätte er es wirklich gewollt, hätte er die Initiative ergriffen. Vermutlich war auch ihm bloß langweilig, als sie ihn angriff, so dass er sich gern auf diese harmlose Diskussion einließ. Es war nachmittags um halb vier, der toteste Punkt des gesamten Arbeitstages. Was sprach schon dagegen?
Doch jetzt schien die Unterhaltung gelitten zu haben; das mit der Wüstenspringmaus nahm Hannah persönlich. Sie saßen beide an ihren Schreibtischen, einander halb zugewandt, und sie sagte: »Ich muss telefonieren.«
Während sie die Nummer wählte, sagte er: »In mir schlägt das Herz eines Löwen. Eines Löwen, der Schürzen jagt.«
Eigentlich seltsam, dass Oliver so witzig ist, dachte Hannah, denn das hätte er gar nicht nötig gehabt. Den Gwens dieser Welt dürfte es egal sein. Neben seinem Akzent spielten noch Ton und Tempo beim Schlagabtausch eine Rolle, aber doch nicht der Inhalt? Und natürlich sein unbestreitbar tolles Aussehen: Oliver ist über eins achtzig groß und hat breite Schultern; als er bei der Stiftung anfing, war sein Haar noch braun gewesen, drei Wochen später war es blond gefärbt. Hannah hatte ihn gefragt, ob er zum Friseur gegangen war oder es selbst durchgeführt hatte, und als er ihr
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