Also lieb ich ihn - Roman
Hannah steigt hinten aus, öffnet die Beifahrertür und streckt Mrs. Dawes den rechten Arm hin. Die alte Dame setzt die Füße auf den Boden beziehungsweise in den Schnee, da der Weg nicht geräumt wurde (auch das hätten Allison und Sam tun können, ihn hätte es gerade mal drei Minuten gekostet). Mrs. Dawes ergreift Hannahs Arm, sie spürt, wie die andere sich daran hochhievt. Als sie neben ihr steht, fährt Hannah kein Knoblauchgestank in die Nase, wie Fig behauptet hat, sondern ein angenehmer Fliederduft. Hannah lehnt sich an Mrs. Dawes vorbei nach vorn, um die Wagentür zu schließen. Frank legt den Rückwärtsgang ein. Auch wenn sie und Mrs. Dawes nur wenige Sekunden allein in tiefer Nacht stehen bleiben, verspürt Hannah dennoch diese uralte Angst vor der Finsternis – das Haus, die Wälder ringsum und der Himmel sind schwarz, es ist, als lauerten sie ihnen auf, ohne Rücksicht auf menschliche Verletzlichkeit, sondern im Gegenteil erpicht darauf, Beute zu schlagen. Selbst als Frank das Auto geparkt hat und ebenfalls ausgestiegen ist, lässt Hannahs Anspannung kaum nach. Wie schon beim Verlassen des Wohnhauses machen sie jetzt winzige Schritte, nur dass diesmal Hannah die alte Dame stützt.
»Wenn Sie mir die Schlüssel geben, Mrs. Dawes«, sagt Frank, »kann ich schon mal vorgehen und die Tür für Sie aufschließen.«
Sie bleiben stehen, solange Mrs. Dawes in ihrer Handtasche wühlt. Wie sich herausstellt, ist ihr Schlüsselanhänger ein brauner Lederstreifen, einem Lesezeichen ähnlich, |241| mit türkisfarbenen, roten und schwarzen Perlen besetzt.
Sieh mal einer an
, denkt Hannah,
da kann sich Mrs. Dawes also für Ethnozeug begeistern
. Bei einem runden Dutzend Schlüssel ist es schwierig zu erläutern, welcher zu einem der beiden Haustürschlösser passt, so dass Frank die Tür immer noch nicht aufbekommen hat, als Hannah und Mrs. Dawes sie endlich erreichen. »Geben Sie mir die Schlüssel«, sagt die alte Dame gebieterisch, um dann selbst geschlagene vier Minuten vergeblich mit ihnen zu hantieren. »Sie haben sie alle durcheinandergebracht, jetzt weiß ich nicht mehr, was oben ist und was unten«, wirft sie Frank wiederholt vor. Währenddessen wechseln Frank und Hannah einige Blicke. Beim ersten Mal hebt er die Augenbrauen, das nächste Mal lächelt er, aber so traurig, wie Hannah es noch bei keinem Menschen erlebt hat. Ihr wird klar, dass er keineswegs die Geduld verliert, sondern einfach Mitgefühl für die alte Dame empfindet.
Schließlich lässt sich die Tür doch noch aufschließen. Frank macht einen Lichtschalter ausfindig, und sie stehen in einer Halle mit Holzboden, auf dem ein Orientteppich liegt. Rechts von der Eingangstür befindet sich ein kleiner Mahagoni-Schreibtisch, darüber hängt ein Spiegel; links ist eine Treppe, das Geländer auf Hochglanz poliert. Die Halle mündet in ein Wohnzimmer, das rundum mit Regalen bestückt und mit altmodischen, aber ansprechenden Möbeln vollgestellt ist – ein weißes Sofa, mehrere Sessel mit geblümtem Chintzbezug, marmorne Beistelltischchen, ein Couchtisch, auf dem ein Porzellanaschenbecher und eine leere Silbervase stehen –, dazu ein Lazy-Boy-Sessel, der knapp zwei Meter vor dem Fernseher mit Flachbildschirm steht.
»Soll ich Sie nach oben begleiten, Mrs. Dawes?«, fragt Frank. »Bevor wir zurückfahren, würde ich gern dafür sorgen, dass Sie Ihr Schlafzimmer wohlbehalten erreichen.« |242| Hannah blickt zur Treppe, um festzustellen, ob sie mit einem Liftsessel ausgestattet ist. Ist sie nicht. Außerdem weiß Hannah durch ihre Mutter, dass Mrs. Dawes jede Unterstützung ablehnt, von einer Haushaltshilfe abgesehen, die dreimal wöchentlich kommt. Wann immer von Mrs. Dawes die Rede ist, lässt Hannahs Mutter dazu eine Bemerkung fallen: Mrs Dawes,
die nicht im Traum auf die Idee käme, dieses riesige Haus aufzugeben
; Mrs. Dawes,
die partout keine Nachtschwester will, auch keine, die sich bloß unten im Wohnzimmer aufhält, so dass Mrs. Dawes sie nicht einmal sehen muss …
Seit Jahren bringt Hannahs Mutter ein- oder zweimal die Woche Essen vorbei – ein paar Cookies oder einen knappen halben Liter Suppe –, in so verschwindend geringen Mengen also, dass es in Hannahs Augen kaum der Mühe wert ist. Schlimmer noch, es könnte der Eindruck entstehen, dass Hannahs Mutter bloß ein paar Reste weiterreicht, obwohl sie diese Dinge tatsächlich in einem teuren Feinkostgeschäft kauft. Doch wenn sie sich jetzt vorstellt, wie ihre Mutter hier rausfährt,
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