Also lieb ich ihn - Roman
kann Hannah die winzigen Portionen besser nachvollziehen. Womöglich versteht sie nun auch besser, warum ihre Mutter über Franks dicken Bauch hinwegsieht.
»Ihr zwei solltet euch lieber gleich auf den Weg machen, sonst glauben die anderen, ihr seid im Schnee steckengeblieben«, sagt Mrs. Dawes.
»Wir haben es nicht eilig«, sagt Frank. »Soll ich Ihnen einen Tee machen? Vielleicht mögen Sie noch ein Tässchen Tee vor dem Schlafengehen?«
»Ich werde Ihnen verraten, was ich schon die ganze Zeit trinken möchte, seit wir aufgebrochen sind: ein Glas Wasser. Die Ente war ausgesprochen salzig. Fandest du sie nicht auch salzig, Hannah?«
»Mir hat sie geschmeckt«, antwortet Hannah.
|243| »Ente ist sowieso nicht mein Fall. Wenn ihr auch Wasser wollt, geht’s hier lang.«
Wieder gehen sie im Schneckentempo, diesmal einen Flur entlang bis zur Küche: rot-weiß karierter Linoleumboden, ein Kühlschrank und eine Spüle mit abgerundeten Ecken, ein Design, das Hannah mit den Fünfzigern in Verbindung bringt, aber vielleicht sind es auch die Vierziger oder Sechziger. Als Mrs. Dawes den Hahn abdreht, fällt Hannah auf, wie still es in diesem Haus ist. Man hört nur die Geräusche, die sie selbst hervorbringen. Mrs. Dawes hat ihnen Saftgläser gegeben, die mit verblassten, münzgroßen orangeroten Punkten verziert sind. Eiswürfel bietet sie ihnen nicht an, und so stehen sie alle drei in der Küche und stürzen das lauwarme Wasser gluckernd runter. Erst jetzt merkt Hannah, dass sie ziemlich durstig war. Sie sieht, wie Mrs. Dawes ihr Glas am Spülenrand abstellt – zunächst sieht Hannah, was passieren wird, dann sieht sie, wie es passiert, doch erst im Nachhinein wird ihr bewusst, dass sie es vielleicht hätte verhindern können. Zwei Drittel des Glases hängen in der Luft, als ragten sie über eine Klippe. Das ganze Glas fällt zu Boden und zerspringt.
Frank schreit auf, ein hoher, verstörender Schrei. Dann bückt er sich, nicht von den Knien aus, sondern von der Hüfte, um das verschüttete Wasser mit Küchenpapier aufzuwischen, die Rolle steht gleich neben der Spüle. Als er aufblickt, ist sein Gesicht rot angelaufen, entweder vom Schreien oder vom Bücken: er fragt: »Wo ist der Besen, Mrs. Dawes? Das kehren wir in null Komma nichts zusammen.«
Als Mrs. Dawes den Besen aus einem Eckschrank holt, versucht Frank, ihn an sich zu nehmen, aber das lässt sie nicht zu. »Ich habe es kaputtgemacht, Frank, also räume ich es weg.« Sie fegt langsam, mit leicht zitternder Hand, so dass Hannah sich wie eine Voyeurin vorkommt. Sie |244| sollte sich besser umdrehen oder so tun, als sei sie abgelenkt. Aber sie will auch helfen; sobald die Glassplitter zu einem Haufen zusammengekehrt sind, sagt Hannah: »Ich kümmer mich um das Kehrblech. Darf ich?«
Mrs. Dawes erlaubt es ihr, vielleicht, weil Hannah eine Frau ist oder weil die alte Dame sich kaum mit dem Kehrblech auf den Boden hocken kann. Ob sie wohl alle Splitter erwischt hat, denkt Hannah, oder sind noch ein paar winzige Scherben übrig? Hoffentlich trägt Mrs. Dawes immer Hausschuhe, denn wenn sie sich schneiden sollte, würde es kompliziert werden – sie müsste sich bücken, um sich ein Stück Küchenpapier an den Fuß zu pressen, bevor sie ihr Verbandszeug hervorholt, wo immer es stecken mag, und sie müsste erkennen, ob die Scherbe in der Haut steckengeblieben ist oder noch irgendwo auf dem Boden liegt.
»Pass auf«, sagt Mrs. Dawes, dann verstummt sie. Frank schweigt ebenfalls. Hannah spürt, wie die beiden ihr von oben zusehen. Vor wenigen Sekunden störte sie noch, dass ihre Oberschenkel so mächtig in die Breite gehen, wenn sie sich hinhockt, doch jetzt wird ihr klar, dass den anderen vor allem ihre gesunde Erscheinung ins Auge stechen dürfte. Ihre Jugend, ihre Energie, ihre Ausdauer – wie leicht es ihr fällt, sich zum Scherbenkehren einfach hinzuhocken, wie ihr alles Mögliche durch den Kopf zu gehen scheint, während sie zugleich mit großer Sorgfalt kehrt. Vielleicht glauben Frank und Mrs. Dawes, dass sie später noch etwas vorhat, mit ihren Cousins und Oliver in eine Bar gehen will, für Hannah war die Hochzeit nur der erste Teil des Abends, auf den ein zweiter folgen soll. Das trifft zwar nicht zu, aber es wäre in der Tat durchaus denkbar. In Mrs. Dawes’ Küche blitzt in Hannah die Erkenntnis auf, wie vieles in ihrem Leben möglich ist, von dem sie noch gar nichts wissen kann. Bestimmt werden ihr schlechte |245| und schmerzliche Erfahrungen nicht
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