Also lieb ich ihn - Roman
zweitägigen Fahrt von Boston nach Chicago mitzuteilen, dass sie bei einer Seelenklempnerin in Behandlung ist. Als Sozialarbeiterin steht Allison von Berufs wegen für die Lösung psychischer Probleme ein, doch Hannah ahnt, dass sie es im Fall der eigenen Schwester eher für bedenklich, um nicht zu sagen anrüchig halten würde, wenn diese eine Psychiaterin aufsucht. Möglicherweise zählt Allison zu jenen Menschen, die allen Ernstes glauben, nur Verrückte gingen zum Psychiater.
»Tut mir leid«, sagt Hannah, »ich hab mich total vertan. Ich weiß genau, wie wir von hier aus zur Neunzigsten kommen, aber ich hab keinen Schimmer, wie wir« – sie hält kurz inne – »das Krankenhaus erreichen. Ich werde sie einfach bitten, mir den Pulli per Post zu schicken.«
|267| »Schau doch auf die Karte! Wenn wir schon mal hier sind, können wir’s auch durchziehen.«
»Nein, es war eine Schnapsidee, wie du gesagt hast. Wenn du jetzt in die Beacon einbiegst, können wir den Block umfahren.«
»Hat dein Arzt denn nichts Besseres zu tun, als dir irgendwelche Pullis nachzusenden?«
»Warst du nicht diejenige, die am liebsten gleich auf die Autobahn wollte?«
Als von Allison keine Antwort kommt, denkt Hannah:
Das ist für uns beide besser, glaub mir.
Laut sagt sie: »Tut mir leid. Ich dachte wirklich, dass ich es auf Anhieb finden würde.«
Allison nimmt die Abzweigung, die zur Neunzigsten zurückführt, doch auf Hannahs Entschuldigung antwortet sie nicht; stattdessen beugt sie sich vor und schaltet am Radio herum, bis sie den öffentlichen Sender gefunden hat. Dann dreht sie es auf volle Lautstärke, eine typische Allison-Handlung: ihre Aggression lebt sie durch das National Public Radio aus. Hannah vertilgt noch etliche Tier-Kräcker und blickt zum Fenster hinaus.
Ganze sieben Jahre ist Hannah erstaunlicherweise nie in Tränen ausgebrochen, wenn sie bei Dr. Lewin in der Praxis war – bis gestern. Auslöser für diese Tränen war, unter anderem, der Umzugsstress: Am frühen Nachmittag war Hannah (zum vierten Mal binnen einer Woche) zum Versandbüro gegangen, um noch mehr mittelgroße Kartons zu besorgen, aber dort gab es keine mehr. Nachdem sie in ihr Apartment zurückgekehrt war, verbrachte sie fast eine halbe Stunde in der telefonischen Warteschleife, um das Gas abdrehen zu lassen und den Vertrag zu kündigen, und gab schließlich auf, als es Zeit wurde, zu Dr. Lewin zu fahren. Die Station erreichte sie, als gerade ein Zug abfuhr, |268| und bis zum nächsten verstrich soviel Zeit, dass Hannah sechs Minuten oder 12,60 Dollar zu spät zum Termin erschien. (Dr. Lewins Staffelhonorar ist über die Jahre in die Höhe geschnellt.) Außerdem war es bei gut 35 Grad und gleißender Sonne entsetzlich schwül, überall liefen die Klimaanlagen auf Hochtouren, um die Temperatur in den Innenräumen halbwegs erträglich zu halten. Wieso um alles in der Welt hatte sie diesen rosa Baumwollpulli mitgenommen? Hannah legte ihn neben ihren Sessel auf den Boden. Ihre verschwitzte Haut klebte am dicken Lederbezug.
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, wiederholte sie.
»Das macht doch nichts«, sagte Dr. Lewin. »Wie laufen die Umzugsvorbereitungen?«
Statt einer Antwort brach Hannah in Tränen aus. Dr. Lewin reichte ihr eine Schachtel Kleenex, aber Hannah lüpfte in diesem Moment lieber ihren T-Shirt-Kragen, um sich damit über Augen und Nase zu wischen.
»Du hast gerade ziemlich viel um die Ohren«, sagte Dr. Lewin.
Hannah schüttelte den Kopf; sprechen konnte sie nicht.
»Lass dir Zeit«, sagte Dr. Lewin. »Auf mich brauchst du keine Rücksicht zu nehmen.«
Die nächsten zwei, drei Minuten (4,20 bis 6,30 Dollar) nutzte Hannah, um sich zu sammeln, doch als ihr dann einfiel, dass – als ihr einfach alles einfiel, setzten neue Tränen ein, und sie musste sich ein weiteres Mal sammeln. Irgendwann verebbten die Tränen, der Zyklus brach ab. Dr. Lewin sagte: »Erzähl mir, was dir am meisten zu schaffen macht.«
Hannah schluckte. »Es ist vielleicht doch keine so tolle Idee, nach Chicago zu ziehen.«
»Was könnte schlimmstenfalls passieren?«
»Na ja, dass man mich feuert. Aber dann würde ich mir wohl einen neuen Job suchen.«
|269| Dr. Lewin nickte. »Du würdest dir wohl einen neuen Job suchen.«
»Am allerschlimmsten wäre wahrscheinlich, wenn es mit Henry nicht klappt. Bin ich verrückt, wenn ich seinetwegen hinziehe und wir dann nicht zusammenkommen?«
»Glaubst du, dass du verrückt bist?«
»Verzeihen Sie«
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