Also lieb ich ihn - Roman
nicht, aber man hört ihn atmen.
Frühmorgens hat er einen ganz eigenartigen Geruch, den auch der allgegenwärtige Zigarettengestank nicht überdeckt; dieser Geruch erinnert sie an Babyspucke. Wenn sie es ihm erzählte, würde er sich schlapplachen. Und trotzdem – dieser Geruch ist eindeutig körperlich, aber auch völlig rein, er dringt ihm zugleich aus Haaren, Haut und Mund, und es ist das, was sie an ihm am meisten liebt. Während sie den Geruch gerade wieder einatmet, hat sie das Bedürfnis, ihn zu bewahren, ihn irgendwie zu konservieren, um sich später daran erinnern zu können. In diesem Moment erkennt sie, dass sie die Beziehung beenden muss. Wie sollte es auch anders sein? War sie nicht stets weit und breit die einzige gewesen, die vom Gegenteil ausging?
In gewisser Weise bricht es ihr das Herz, denn zu ihrem gemeinsamen Glück fehlt gar nicht viel, davon ist sie überzeugt. Sie mag ihn wirklich, sie liegt gern bei ihm, sie sucht seine Gesellschaft. Wer kann das alles schon für sich beanspruchen? Und trotzdem ist sie erleichtert. Sie weiß, wie gern und viel er redet, kaum, dass er aufgewacht ist – selbst im verkaterten Zustand –, sie weiß, dass er nach wenigen Minuten ihre Hand nehmen wird, damit sie seine Morgenlatte befühlt.
Schau, was du angerichtet hast
, sagt er dann.
Du Hexe.
Noch bis vor kurzem empfand sie seine ständige Geilheit als eine Art Kompliment, obwohl sie über alles andere Bescheid wusste, doch inzwischen laugt es sie nur aus. Ob sie ihn nun zurückweist oder seinem Verlangen nachgibt – beides ist gleich unangenehm.
|264| Und wer weiß, was sich als Nächstes ergeben wird, wie die Dinge sich überhaupt entwickeln? Im Moment konzentriert sie sich nur auf eins: Ihn so aufmerksam zu betrachten, dass sie noch so lange wie möglich bei ihm bleiben kann, bis zur allerletzten Sekunde, bevor er die Augen aufschlägt.
|265| 8
August 2003
Als Hannah Allison eröffnet, dass sie vor der Autobahnfahrt noch einen Abstecher nach Brookline machen müssen, zur Praxis ihrer Psychotherapeutin, reagiert ihre Schwester auf eine Weise, die absolut nicht Allison-gemäß ist: »Verdammte Scheiße, willst du mich vielleicht verarschen?«
Es ist kurz nach elf an einem sonnigen Morgen Ende August, und sie schwitzen beide. Hannahs Wohnung ist leer, sämtliche Möbel und Kartons sind in den LKW verladen; die Nacht haben sie und Allison in Schlafsäcken auf ein und derselben Luftmatratze verbracht. Bei dem ganzen Hin und Her zwischen Wohnung und LKW stopft sich Hannah immer mal wieder eine Handvoll fader Tier-Kräcker in den Mund; die Packung hat sie aus den Untiefen eines Küchenschranks hervorgekramt. Allison lehnt dankend ab.
»Brookline ist gar nicht so weit vom Schuss«, sagt Hannah. »Es liegt doch fast parallel zu Cambridge.«
Allison sieht Hannah an. »
Parallel?
«, wiederholt sie.
Da Allison sich bereit erklärt hat, den Umzugswagen aus der Innenstadt zu bugsieren, muss Hannah sich wohl oder übel diplomatisch zeigen. In den acht Jahren, die sie in Boston verbracht hat, saß sie bloß einmal am Steuer – in ihrem Freshman-Jahr, als sie und Jenny mitten in der Nacht von dieser Technischen Universität aufgebrochen waren –, und sie verspürt nicht den geringsten Wunsch, es noch einmal zu tun, auch wenn sie den kleinstmöglichen LKW gemietet hat. Als Hannah ihre Schwester um Hilfe bat, reagierte Allison zunächst etwas zögerlich, weil ihr |266| Töchterchen Isabel erst ein paar Monate alt ist, allerdings schien es ihr nichts auszumachen, dass sie den Fahrerpart übernehmen sollte. In San Francisco teilen sich Allison und Sam einen Saab und parken selbst am Hang locker rückwärts ein.
Hannah schiebt sich drei weitere Kräcker in den Mund; kauend sagt sie: »Wollen wir mal?«
Sie weiß nicht genau, wie man am besten zu Dr. Lewin kommt – bisher hat sie immer den Zug genommen –, und ist froh, dass sie sich nicht verfahren. Nur noch wenige Blocks von der Praxis entfernt, die sich ja im Keller von Dr. Lewins Haus befindet, erkennt Hannah ihren Fehler. Allison hat sie erklärt, dass sie ihren Pulli nach einem Arzttermin in der Praxis vergessen hat, und natürlich wird ihre Schwester an einen ganz normalen Arzt gedacht haben, wie von Hannah gewünscht. Doch wenn sie jetzt vor Dr. Lewins grauem, stuckverziertem Haus halten, wird sie ihr die Situation erklären müssen, und Hannah fühlt sich irgendwie außerstande, einer ausgesprochen übellaunigen Allison gleich zu Beginn ihrer
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