Also lieb ich ihn - Roman
wie unangebracht, so kam es ihr vor.
»Gern geschehen.« Dr. Lewin griff nach Hannahs Hand und drückte sie fest – es war herzlicher als ein normaler Händedruck, wenn auch nicht so herzlich wie eine Umarmung. »Pass gut auf dich auf, Hannah, und halte mich bitte auf dem Laufenden.«
»Das tu ich ganz bestimmt.« Hannah nickte mehrmals, dann nahm sie Abschied und trat in die drückende Hitze hinaus, ohne Pulli.
Es ist bereits nach vier, als Hannah sagt: »Ich müsste mal, wenn du also eine der nächsten Ausfahrten ansteuern könntest, wäre ich dir sehr dankbar.«
»Würdest du nicht pausenlos futtern, müsstest du vielleicht auch nicht ständig aufs Klo«, sagt Allison.
Stimmt schon, Hannah hat fast den ganzen Nachmittag irgendwelches Zeug gefuttert, aber nur, weil Allison keine Lunchpause einlegen wollte, nachdem sie bereits das Frühstück hatten ausfallen lassen. »Warum holst du dir nicht hier was zu essen?«, fragte Allison bei ihrem letzten Tankstopp, und Hannah besorgte Brezeln, karamellisierten Popcorn und eine kleine Portion Käse mit Kräcker. Der Käse war von schlammartiger Konsistenz; in der Packung steckte auch ein rotes Plastikstäbchen, zum Streichen.
»Vom Essen muss man nicht pinkeln«, sagt Hannah. »Sondern vom Trinken.«
»Vom Essen auch«, entgegnet Allison, und bevor Hannah etwas erwidern kann, fügt sie hinzu: »Was für eine hirnrissige Diskussion.«
|275| »Mag sein«, sagt Hannah, »wenn ich mir aber nicht in die Hosen machen soll, wird’s langsam Zeit.«
An der Tankstelle geht nach Hannah auch Allison auf die Toilette (
Siehst du
, denkt Hannah,
auch du musstest pinkeln
), und als sie rauskommt, fragt Hannah: »Soll ich fahren?« Sie hofft, dass Allison nein sagt. Nicht nur, weil der LKW so schwer zu steuern ist, sondern auch, weil sie den Schildern nach demnächst auf eine Baustelle stoßen werden.
»Gern«, antwortet Allison. Als sie Hannah die Schlüssel aushändigt, sagt sie noch: »Pass auf die Temperaturanzeige auf. Wenn wir in einen Stau geraten, sollten wir die Klimaanlage besser abschalten.«
Am schlimmsten ist, wie von Hannah befürchtet, die eingeschränkte Sicht nach hinten. Das Zweitschlimmste ist die schiere Größe. Früher wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass die meisten Umzugs-LKWs, die man mieten kann, dann auch von Leuten gesteuert werden, die vermutlich kaum erfahrener sind als sie. Hannah ist fest entschlossen, die rechte Spur zu halten, egal, wer wie langsam vor ihr herfährt.
Allison drückt ihr zusammengeknautschtes Sweatshirt an die Fensterscheibe, lehnt den Kopf dagegen und schließt die Augen.
Danke, dass du so solidarisch bist
, denkt Hannah; nach einigen Minuten ist sie allerdings ganz froh, dass ihre Schwester schläft oder wenigstens zu schlafen vorgibt. So kann sie sich ohne Publikum zurechtfinden. Ein Vorzug des LKWs ist die Höhe. Wenn man so weit oben thront, fühlt man sich so manchem kleinen Honda herrlich überlegen.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde, als Hannah sich eingefahren hat (die erste Baustellenetappe stellte sich als kurz und schmerzlos heraus), huscht ihr etwas vor die Räder – etwas Bräunliches mit Schwanz, weder groß noch |276| klein. »O Gott«, ruft Hannah aus; gleich darauf hat sie es schon überfahren, eine kleine Unebenheit unter den linken Rädern. Sie hält sich die Hand vor den Mund, zur Faust geballt. »Allison, bist du wach?«
Allison bewegt sich. »Wo sind wir?«
»Ich glaube, ich hab grade ein Opossum oder einen Waschbären überfahren. Was soll ich machen?«
»Ist das eben erst passiert?«
»Soll ich umdrehen?«
Allison setzt sich aufrecht hin. »Gar nichts machst du«, sagt sie. »Fahr einfach weiter.«
»Aber was, wenn es noch nicht ganz tot ist? Wenn es leidet?«
Allison schüttelt den Kopf. »Da kannst du nichts machen – es ist zu gefährlich. Ist dir das noch nie passiert?«
»Ich fahr ja kaum.«
»Bist du sicher, dass du es überhaupt erwischt hast? Hast du es im Rückspiegel gesehen?«
»Ich hab’s erwischt«, sagt Hannah.
»Denk nicht mehr daran.« Allisons Stimme klingt freundlich, aber bestimmt. »Das kommt ständig vor – vor ein paar Stunden gab es doch dieses Reh auf dem Mittelstreifen. Das ist noch viel trauriger als ein Opossum.«
»Hast du schon mal ein Tier überfahren?«
»Vermutlich.« Allison gähnt. »Ich kann mich aber nicht daran erinnern, und das bedeutet, ich bin nicht so mitfühlend wie du.«
»Du bist doch die Vegetarierin.«
»Dann habe ich eben noch
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