Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
erst am Tag zuvor in San Francisco erzählt hatte. Wie Lena Orlowa ihrer Tochter, als diese klein war, gern vorgesungen hatte, dass sie ein gesegnetes Mädchen aus einer langen stolzen Linie sei und nicht die Letzte sein werde.
» Ich danke Ihnen, Boris.«
Er legte einen Arm vor die Brust und verneigte sich leicht. » Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich fürchte, Sie werden es brauchen können.«
Er drehte sich um und zog einen kleineren Samtvorhang zur Seite – einen purpurnen diesmal. Dahinter kam eine schlichte Eichentür zum Vorschein. » Wenn Sie fertig sind, gehen Sie am besten hier hinaus. Sie werden sich in einem kleinen Innenhof wiederfinden. Rechts von Ihnen wird ein Weinlokal sein, und wenn Sie es durchqueren, kommen Sie auf den Boulevard Saint-Michel hinaus. Wenn Ihnen nach einem kleinen Trankopfer ist und Sie Ihren Geldbeutel nicht über Gebühr strapazieren wollen, kann ich den Haus-Bordeaux empfehlen.«
Zoe lächelte. » Darf ich Sie auf ein Glas einladen, wenn ich fertig bin?«
Er verbeugte sich wieder. » Danke für das Angebot, aber leider musste ich feststellen, dass mir der Traubensaft in meinem Alter Sodbrennen verursacht.«
Er öffnete den blauen Vorhang, sagte: » Leben Sie wohl, Enkelin von Katja Orlowa.« Dann verschwand er dahinter.
Zoe war jetzt so aufgeregt, dass sie förmlich vibrierte, als sie den Deckel der Schatulle aufzog und hineinsah.
Ein rechteckiger Gegenstand etwa von der Größe und Stärke eines Buchs lag darin, eingewickelt in einen Beutel aus Seehundfell. Sie hob ihn langsam heraus, löste ihn aus dem dicken, öligen Fell und hielt den Atem an.
Es war eine russische Ikone, und auch wenn sie nicht annähernd so viel darüber wusste wie ihre Mutter, sah sie doch, dass dies ein vorzügliches und seltenes Exemplar war. Und sehr alt.
Sie war auf ein dickes Stück Holz gemalt und vom Motiv her anders als alle Ikonen, die sie zuvor gesehen hatte. Es erfüllte sie sowohl mit Staunen als auch mit einer übernatürlichen Furcht. Die Jungfrau Maria saß auf einem vergoldeten Thron, die Hände um einen goldenen Pokal geschlossen, der die Form eines menschlichen Schädels hatte. Aber das Gesicht der Madonna… Zoe konnte nicht aufhören, in ihr Gesicht zu sehen. Es war vor Jahrhunderten gemalt worden, aber es war genau das Gesicht, das ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickte.
Sie verstand jetzt, warum der alte Mann gewusst hatte, dass Lena Orlowa eine Hüterin war, als er sie in jener Suppenküche gesehen hatte. Sie war das Ebenbild der Madonna. Genau wie Sie. Der Gedanke ließ Zoe frösteln.
Konnte diese Ikone der Knochenaltar sein? In früheren Jahrhunderten glaubte man ohne Frage vom abergläubischen Kleinbauern bis zum mächtigen Zaren, dass manche Ikonen heilen und Wunder vollbringen konnten. Aber gewiss ließ sich das heute niemand mehr einreden– und erst recht würde niemand dafür töten. Allerdings war die Ikone unbezahlbar wertvoll, wie ein vergrabener Schatz, und wenn eine Supermarktkassiererin wegen zwanzig Dollar erschossen wurde, dann konnte wohl eine alte Dame sterben, weil sie eine Ikone zu schützen versuchte, die Millionen wert war.
Plötzlich war es so still im Laden. Zu still. Nur die Uhren tickten. Zoe öffnete den Mund, um nach dem alten Mann zu rufen, aber dann schloss sie ihn wieder. Sie fühlte sich allein.
Und es gefiel ihr nicht.
Sie betrachtete die Ikone wieder. Es wurde ihr immer unheimlicher, dass die Madonna ihr Gesicht hatte. Und der Schädelpokal war ebenfalls gruslig. Die Jungfrau und ihr Thron schienen auf einem See zu schwimmen. Auf einer Seite war ein Wasserfall, auf der anderen etwas, das wie ein Durcheinander von Felsen aussah. Und das Gemälde war mit Edelsteinen besetzt, aber sie waren sonderbar über das Bild verstreut, als hätte der Künstler sie ohne jede Vorstellung von Symmetrie oder Logik eingesetzt. Bis auf den Rubin, den er mitten in die Stirn des Totenschädels platziert hatte.
Rubin, Saphir, Aquamarin, Diamant, Feueropal, Iolith, Onyx. Sieben Edelsteine, und keiner kam zweimal vor. Sie kannte sich nicht gut genug aus, um ihre Qualität beurteilen zu können, aber der Rubin war so groß wie ihr kleiner Finger. Die anderen waren jedoch kleiner.
Sie blickte noch einen Moment in das Gesicht der Jungfrau, dann wickelte sie die Ikone wieder in ihr wasserdichtes Seehundfell und steckte sie in ihre Tasche. Sie wollte eben den Deckel der Schatulle schließen, als sie noch etwas darin sah. Es musste unter der Ikone
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