Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
genommen, mir nie Ratschläge erteilt. Ich kann mich an keinen Vortrag von pädagogisch relevantem Inhalt erinnern. Sein bevorzugtes Metier waren Bemerkungen über das Wetter und die Bewegungen in der Landschaft.
Wenn man ihn so sah im Schattengesprenkel eines der Bäume, konnte man denken, alles sei in Ordnung.
Ich dachte damals, die Zeit, die noch bleibt, ist knapp bemessen. Ich überlegte, wo uns das nächste Jahr finden würde und wo das übernächste. Zwei oder drei Jahre – das ist ungefähr die Zeit, die ich an einem Roman arbeite. Drei Jahre, das war ungefähr die Zeit, von der ich glaubte, dass ich meinen Vater noch erreichen konnte. Deshalb kam ich nach Vorarlberg, so oft es ging, und gab seinen Betreuerinnen die Nachmittage frei, damit ich die Zeit mit ihm alleine verbringen konnte.
Meistens verliefen die Tage sehr friedlich. Manchmal glaubte ich, Probleme mit den Ohren zu haben, weil ich die Stille nicht gewohnt war. Während ich arbeitete, saß mir der Vater stundenlang am Küchentisch gegenüber. Er fuhr mit den Händen über den Tisch, atmete zwischendurch schnell und rhythmisch, hantierte am Zeitungsständer, verhielt sich sonst aber ruhig. Manchmal stellte er eine Frage, und wir redeten, manchmal schaute er mir von der Seite in den Laptop und las mit. Auf meine Frage, ob ihn interessiere, was ich schreibe, antwortete er:
»Ja, ein wenig darf es mich schon interessieren.«
Dann setzte er sich wieder hin und machte ein Gesicht, als träume er. In seiner Gedankenlosigkeit kam er mir vor, als sei er der Alte. Er spielte mit seinen Fingern, als gäbe es im Moment nichts Dringenderes, zwischendurch bat er mich, es ihm zu sagen, falls er mir helfen könne.
»Leider, ich weiß«, fügte er hinzu, »ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr, meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können.«
Ich sagte:
»Du hilfst mir von allen am meisten.«
»Sag so etwas nicht!«, gab er zur Antwort.
»Doch, es stimmt, du hilfst mir am meisten.«
»Es ist nett von dir, wenn du es sagst.«
»Es stimmt auch.«
Er grübelte einen Augenblick, bevor er sagte:
»Dann nehme ich es vorerst zur Kenntnis.«
Wenn er allein in der Stube saß, sang er oft, und immer öfter laut. Ich dachte mir, wenn er so weitermacht, wird er neunzig. Er führte ja eigentlich ein gesundes Leben. Jeden Tag geregelte Mahlzeiten, viel singen und spazieren gehen und lange schlafen. Am Freitag gab es kein Fleisch; seine slowakischen Betreuerinnen hielten auf solche Dinge. Und am Sonntag begleiteten sie den Vater in die Kirche, wenn Peter und Familie schon am Vorabend gegangen waren.
Beim Singen veränderte er scherzhaft die Texte. Auch beim Reden nahm sein Einfallsreichtum zu. Die Verschmitztheit, die er früher gehabt hatte, wurde wieder sichtbar, es war wie bei der Schönheit eines überwucherten Gartens, der ein wenig ausgelichtet wird.
»Bei diesen Dingen habe ich zum Teil auch mitgemacht«, sagte er. »Aber bitte das Wort zum Teil nicht allzu groß auffassen, es ist sehr klein zu verstehen.«
Diese Ausdrucksweise beeindruckte mich, ich fühlte mich in Berührung mit dem magischen Potential der Wörter. James Joyce hat von sich gesagt, er habe keine Phantasie, überlasse sich aber einfach den Offerten der Sprache. So kam es mir auch beim Vater vor. Aus zukünftig machte er kuhzünftig , das Ende des Lateins , das ich bekundete, konterte er, er selber befinde sich nicht am Ende des Lateins, sondern am Ende des Daseins . Dabei betonte er die Wörter so, dass die lautliche Verwandtschaft unüberhörbar war. Er verwendete Wörter wie pressant und pressiert , dawei und bistra . Auch einige alte Redensarten, die ich lange nicht gehört hatte, kamen wieder zum Vorschein:
»Das Leintuch ist nun einmal nicht größer, da hilft kein Ziehen.«
»Ein guter Stolperer fällt nicht.«
»Du stellst dich an, als hättest du Schuhnägel in der Suppe.«
Wenn ihm ein Wort nicht einfiel, sagte er:
»Ich weiß nicht, wie ich es taufen soll.«
Locker fielen ihm die Wörter aus dem Mund, klack, klack. Er war entspannt, er redete, was ihm einfiel, und was ihmeinfiel, war oft nicht nur originell, sondern hatte eine Tiefe, bei der ich mir dachte: Warum fällt mir so etwas nicht ein! Ich wunderte mich, wie präzise er sich ausdrückte und wie genau er den richtigen Ton traf und wie geschickt er die Wörter wählte. Er sagte:
»Du und ich, wir werden uns das Leben gegenseitig so angenehm wie
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