Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Tages stand Pech vor der Tür für einen kurzen Besuch, wir waren ein wenig betreten, und der Vater sprach ihn auf die Nachforschungen der Polizei an. Pech winkte ab, sie hätten ihn schnell gefunden und schnell wieder laufenlassen, das sei die Hysterie von 1977 gewesen.
Der Vater war sichtlich erleichtert, ich ein wenig enttäuscht.
Meine Kindheit ging allmählich zu Ende. Der Vater war bis dahin ein guter und glücklicher Vater gewesen – bis zu dem Zeitpunkt, da er hätte Initiative ergreifen müssen. Pubertierende Kinder lagen ihm nicht, damit steht er nicht allein. Die Heranwachsenden hätte er für etwas gewinnen und sie begeistern müssen. Aber auf andere zugehen entsprach nicht seinem Naturell. Lieber zog er sich zurück und erstarrte in den Gewohnheiten seines dörflichen Daseins.
Ich habe mir sagen lassen, im Griechischen seien die Wörter für Heimat und Gewohnheit verwandt.
Wenn das Telefon klingelte, rührte sich der Vater nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand etwas von ihm wollte.
»Das ist bestimmt nicht für mich«, sagte er.
Auch auf den Briefträger wartete er nicht. Warum auch? Der brachte ihm nichts, worauf er hätte neugierig sein können.
Mehr und mehr empfand ich den Vater als einen Menschen, mit dem mich nichts verband. Und da es unmöglich war, das Bedürfnis nach jugendlicher Rebellion gegen die väterliche Herrschaft zu richten (er machte ja nie Anstalten, jemanden beherrschen zu wollen), suchte ich Ersatz und rebellierte gegen die väterliche Ignoranz; man empfindet ja meistens entweder einen Mangel oder ein Übermaß an elterlicher Fürsorge. Ich warf ihm Desinteresse vor. Er ging auf diese Anschuldigungen nicht ein, das brachte mich erst recht gegen ihn auf, ich konnte es nicht verstehen und mich deshalb auch nicht damit aussöhnen.Irgendwann schrieb ich ihn ab als jemanden, mit dem ich mich nicht mehr beschäftigen wollte. Ich hatte genug andere Probleme . Und das stimmte sogar, war aber gleichzeitig eine Ausflucht, denn vor allem waren meine Interessen andere geworden, meinem Alter entsprechend. Das ging so weit, dass ich heute nicht einmal behaupten kann, damals auf eine Zukunft gehofft zu haben, in der die Kluft zwischen dem Vater und mir wieder schmäler wurde. Der Vater war mir während dieser Zeit einfach nicht besonders wichtig und phasenweise egal.
Die Großzügigkeit seines Urteils fiel mir in meiner Jugend auf und dass er über andere nicht leichtfertig oder böswillig redete. Das schätzte ich an ihm, aus einer immer größer werdenden Distanz.
Der Vater verbrachte jetzt viel Zeit im Keller in der Werkstatt. Dort konnte er seine Gedanken spinnen oder gedankenlos seinen Spinnereien nachgehen. Dort konnte er sein Leben von äußeren Ereignissen freihalten. Die Werkstatt war sein Refugium und seine natürliche Heimat. Noch heute staune ich über die Organisation dort unten. In den siebziger Jahren hatte er ein großes Brett an die niedrige Decke gedübelt und an dieses Brett in sorgfältiger Ordnung die Deckel von Kindernahrungsgläsern geschraubt, mit der Schraubseite nach unten. In die Gläser füllte er das sortierte Kleinmaterial, jetzt hingen die Gläser zu Dutzenden an der Decke, sehr übersichtlich, gut einsehbar, eine vollendete Ordnung, so dass sogar die Kinder und die Frau auf Anhieb fanden, was sie suchten.
Wenn jemand wissen wollte:
»Wo ist Papa?«
Hieß es meistens:
»Vermutlich in der Werkstatt.«
»Was tüftelt er wieder aus?«
»Irgendeinen Blödsinn.«
In meinen Erinnerungen an diese Zeit tauchen immer wieder ähnliche Situationen auf. Die Familie wollte nicht, dass der Vater, der am äußeren Rand des Haushalts herumwerkelte, aus seiner Abwesenheit heraus das Familienleben störte (die Bohrmaschine im Keller, von der das Fernsehbild zusammenfiel, ständiges Klopfen und Klöckeln aus irgendwelchen Winkeln, wenn die Kinder lernen mussten oder lesen wollten). Sogar meine anfänglichen Gefühle, als der Vater krank wurde, folgten diesem Muster – ich dachte, ich möchte nicht, dass sich der Vater mittels einer Krankheit in die Abwesenheit zurückzieht und gleichzeitig aus der Abwesenheit heraus mein Leben beeinträchtigt. Genaugenommen lebte er am Anfang der Krankheit weiterhin sein autonomes Robinson-Crusoe-Dasein – die Familie machte ihm den Hintergrund, den er dafür brauchte, das Meer und den Wind und den Wald und die Ziegen und my man Friday .
Robinson Crusoe ist der einzige Roman, den mein Vater in seinem Leben gelesen
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