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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil Kostenlos Bücher Online Lesen
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musste, lachten wir schadenfroh.
     
    Die örtliche Orientierung des Vaters ließ immer mehr nach. Nächtens streifte er im Pyjama durch die Nachbarschaft, wir fragten uns, was ist, wenn ihm etwas zustößt. Damit auch in der Nacht jemand auf ihn aufpasste, entschieden wir uns für eine Betreuung rund um die Uhr. Die Tür zur Treppe wurde in der Nacht abgesperrt.
    Die slowakischen Frauen, die ins Haus kamen, brachten Ordnung in den Tagesablauf des Vaters. Die ständig wechselnden Menschen, die bisher morgens in sein Schlafzimmer getreten waren, hatten ihn konfus gemacht. Seine Verfassung besserte sich in kurzer Zeit, wir konnten regelrecht zusehen, wie er auflebte. Verbunden damit, dass die Krankheit sich durch ihr Voranschreiten selbst abmilderte, begann für ihn das Goldene Zeitalter der Demenz.
    Kein Demenzkranker ist wie der andere, oft sind Verallgemeinerungen heikel, in ihrem Wesen bleiben die Betroffenen unergründlich, jeder ein Einzelfall mit eigenen Kompetenzen, Empfindungen und eigenem Krankheitsverlauf. Im Falle meines Vaters verlief die Krankheit langsam, und je weniger ihm seine Misere bewusst war, desto mehr ließ der Einfluss nach, den die Krankheit auf seine Stimmung ausübte. War ihm die Krankheit noch bewusst, machte sie ihm keine große Angst mehr. Er nahm sein Schicksal gelassen hin, und seine positive Grundeinstellung kam wieder öfter zum Vorschein.
    Auch passierte es seltener, dass er ohne Heimathafen durchs Haus irrte. Es gab zwar weiterhin Situationen, in denen er nach Hause wollte, dieser Wunsch ging aber nicht mehr mit Panik einher. Seine Stimme klang oft ruhig wie die eines Menschen, der weiß, dass das Leben immer schlecht ausgeht und dass es nicht lohnt, sich aufzuregen.
    »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er einmal, als er müde war, noch länger zu warten, dass ihn jemand mitnahm. »Gehst du mit oder bleibst du hier?«
    »Ich bleibe hier.«
    »Gut, dann geh ich allein. Was nutzt mich hier das Warten und dann, wer weiß, im November heimgehen. Und vielleicht auch noch etwas zahlen müssen. Die einzige Chance ist, sofort heimgehen.«
    »Ja, geh nur.«
    »Darf ich gehen?«
    »Wenn du meinst, bitte, es steht dir frei.«
    »Und eins noch, meine Angehörigen – darf ich sie mitnehmen?«
    »Selbstverständlich, nimm sie mit.«
    »Gut, danke.«
    Er schaute sich um, ob ihm noch etwas auffiel, das er mitnehmen könnte. Er sagte zufrieden:
    »Da ist nichts mehr, was mich persönlich berührt.«
    Anschließend kam er nochmals zu mir an den Tisch, sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass ihm die Situation ein wenig peinlich war, er zögerte, rückte schließlich aber doch mit dem Problem heraus.
    »Hast du mir eine Adresse? Oder eine andere Anweisung? Ich meine, du müsstest mir nur sagen, geh die obere Straße entlang, bis du das Haus siehst.«
    Die Art und Weise, wie er um Unterstützung bat, ging mir zu Herzen, ich sagte:
    »Ich habe es mir überlegt, ich komme mit. Wenn du noch eine halbe Stunde wartest, bis ich mit Tippen fertig bin, gehen wir gemeinsam.«
    »Wohin?«, fragte er.
    »Heim«, sagte ich. »Mich zieht es auch heim.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Aber bevor wir gehen, solltest du dich ein wenig ausruhen und Energien sammeln.«
    »Ist es weit?«
    »Weit genug. Aber wir schaffen es an einem Stück.«
    »Und du würdest tatsächlich mitgehen?«
    »Ja, sicher.«
    »Das würdest du tun?«
    Ich nahm seine Hand, drückte sie kurz:
    »Sehr gerne sogar.«
    Das war eine Antwort nach seinem Geschmack. Sogleich strahlte er über das ganze Gesicht, griff ebenfalls nach meiner Hand und sagte:
    »Danke!«
    Dann setzte er sich zu mir an den Tisch, und wir verbrachten einen halbwegs ruhigen Abend, bis ihn seine Betreuerin ins Bett brachte.
     
    Er hielt mich jetzt meistens für Paul, seinen Bruder. Es war mir egal, Hauptsache Familie. Es war mir auch recht, wenn er mich morgens begrüßte mit einem singenden:
    »Gott grüße dich, mein schöner Bru-uu-der.«
    Manchmal wechselte er mitten im Satz, stellte mich als seinen Bruder Paul vor, »der Waldaufseher«, und fügte hinzu:
    »Er ist ein Dichter und Denker.«
    Er rannte so gut wie nicht mehr auf eigene Faust davon, es gab immer wieder Momente, da saß er auf dem Mäuerchen vor dem Haus oder stand auf der Terrasse und schauteins Dorf hinunter. Da erwartete ich manchmal, dass er gesund war, sich mir zuwandte und ein beiläufiges Gespräch mit mir anfing. Wir hatten nie etwas anderes als beiläufige Gespräche geführt. Er hatte mich nie ins Gebet

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