Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
möglich machen, und wenn uns das nicht gelingt, wird eben einer von uns das Nachsehen haben.«
In solchen Augenblicken war es, als trete er aus dem Haus der Krankheit heraus und genieße die frische Luft. Momentweise war er wieder ganz bei sich. Wir verlebten glückliche Stunden, deren Besonderheit darin bestand, dass sie der Krankheit abgetrotzt waren.
»Mir geht es meiner Beurteilung nach gut«, sagte er. »Ich bin jetzt ein älterer Mann, jetzt muss ich machen, was mir gefällt, und schauen, was dabei herauskommt.«
»Und was willst du machen, Papa?«
»Nichts eben. Das ist das Schönste, weißt du. Das muss man können.«
Seine Misere war ihm entweder nicht mehr bewusst, oder er nahm sie nicht mehr tragisch. Selbst als sich durch starken Blutverlust beim Wasserlassen ein Blasentumor bemerkbar machte, irritierte ihn das wenig. Er war weiterhin gut drauf und wunderte sich nur. Lediglich nach der Operation war er infolge der Narkose und aufgrund der fremden Umgebung durcheinander. Alle waren froh, als ihn die Ärzte endlich nach Hause entließen. Dort ging’ssofort wieder besser, und er wusste sogar, dass er zu Hause war. Das wollte etwas heißen.
Als er im Krankenhaus aufgewacht war, hatte er zu Daniela, seiner Betreuerin, gesagt, er habe Schmerzen. Daniela hatte geantwortet, sie könne ihm nicht helfen, aber sie bleibe bei ihm. Da sagte er:
»Wenn du bei mir bist, hilft mir das bereits sehr viel.«
Auch ein Altersdiabetes war diagnostiziert. Jeden Morgen bewies der Vater die bewundernswürdige Fähigkeit, Tabletten jeglicher Größe ohne Zuhilfenahme von Flüssigkeit zu schlucken, mit komisch verzerrtem Gesicht. Er spülte erst nach, wenn ohnehin alles unten war.
Seit einiger Zeit konnte er den Fernseher nicht mehr als andere Realität erkennen. Er fragte, wie es sein könne, dass dort, wo er hinschaute, das eine Mal ein ihm unbekanntes Zimmer zu sehen war und im nächsten Moment ein Auto.
»Wie kommt jetzt das Auto hier herein?«
Das gipfelte darin, dass er zu Weihnachten während der Nachrichten von der Couch aufstand, die Schale mit den Weihnachtskeksen zum Fernseher trug und den Nachrichtensprecher zum Zugreifen animierte. Als der Nachrichtensprecher nicht reagierte, nahm der Vater einen Husarenkrapfen, hielt ihn genau an die Stelle, wo sich der Mund des Sprechers bewegte, und schlug dem Mann vor, zu probieren. Die fortgesetzte Unhöflichkeit des Nachrichtensprechers machte den Vater ein wenig ungehalten. Uns jagte die Szenerie trotz der Komik einen Schrecken ein. Ziemlich gespenstisch war das.
Tatsächlich trieb die Krankheit in ihm jetzt seltsame Blüten. Diese Momente waren meist von kurzer Dauer, und oft wiesen sie darauf hin, dass der Vater sich nicht wohl fühlte. Sein Zustand änderte sich rapide, abhängig davon, in wie guten Händen er sich befand.
Mit manchen seiner Betreuerinnen war er ein Herz und eine Seele, andere schafften es nicht, ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er gut aufgehoben war. Dann war er durcheinander und ängstlich, wurde panisch und glaubte sich in ernsten Schwierigkeiten.
»Es wird geschossen, wir müssen in Deckung gehen!«, rief er. »Die Schweizer schießen schon wieder herüber!«
Aus dem Großelternhaus quoll grauer, leicht bräunlicher Rauch, Onkel Robert war am Schnapsbrennen. Am Vormittag war Onkel Erich mit einem Eimer und einer kleinen Schaufel durchs Feld und über den Bühel gegangen und hatte die ständig nachwachsenden jungen Eichen ausgestochen. Der Rauch aus dem Kamin war zwischendurch fast durchsichtig – vielleicht der Feinbrand. Von meinem Schreibtisch aus sah ich, dass der Nussbaum hinter dem Kamin ein wenig flimmerte und verschwamm.
Es war ein kühler Tag mit hohen dünnen Wolken. Vor meiner Wohnung suchte ein Schwarm Finken zwischen den Himbeerstauden nach Nahrung.
Ich hatte seit einer Stunde an der Konzeption von Alles über Sally gearbeitet und Kaffee aus einer alten, angeschlagenen Tasse getrunken, da klingelte das Handy. Es war Maria, eine der Betreuerinnen des Vaters. Sie hatte denVater unter die Dusche stellen wollen, er hatte nicht duschen wollen und sich im Badezimmer eingesperrt, als sie kurz weggegangen war. Jetzt kam er nicht mehr heraus.
Ich ging nach oben und kümmerte mich darum. Nach mehrmaligem Bitten öffnete mir der Vater die Tür. Er saß auf dem Badeschemel, in langer Hose und weißem, ärmellosem Unterhemd, an den Oberarmen hing die Haut herunter, aller Spannkraft beraubt. Zwei Handtücher hatte er sich
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