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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil Kostenlos Bücher Online Lesen
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Merkwürdigkeiten zu tun hat, gerät unweigerlich in Alarmzustand.
     
    Wenige Wochen später redete mir Tante Hedwig, die Frau von Emil, aufs Band. Ich rief sie zurück, es ging um Katharina, die Tochter meiner Cousine Maria. Katharina war nach einem grippalen Infekt wochenlang gelähmt gewesen, lediglich die Augen hatte sie noch bewegen können. Diese Erfahrung und die tagelangen Albträume wegen der Medikamente hatte Katharina aufgezeichnet. Tante Hedwig und ich redeten auch über meinen Vater. Sie erwähnte einen Ausflug, den mein Cousin Stefan mit ihm unternommen hatte. Mein Vater habe betont, dass es ihm in seinem Leben immer gutgegangen sei. Tante Hedwig erwähnte das staunend, eine solche Aussage höre sie von den allerwenigsten Menschen. Wenn sie sich das Foto vor Augen rufe, das August zeige, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen sei, werde seine Einstellung noch bemerkenswerter.
    Ich bedauerte, dass das Foto gemeinsam mit der Brieftasche meines Vaters verlorengegangen war.
    Tante Hedwig sagte:
    »Ach, Arno, wir haben eine Kopie. Keine Ahnung, wie diein unseren Besitz gekommen ist. Aber wir haben eine Kopie.«
    »Bist du sicher?«
    Ich beschrieb das Foto.
    »Ja, ich bin sicher. Wenn du willst, suche ich es heraus. Du kannst es morgen holen.«
    Also holte ich das Foto und machte eine Kopie der Kopie und durfte die Originalkopie behalten; sie ist eines der Dinge, an denen mein Herz hängt.
    Aus der Kennzeichnung auf der Rückseite des Fotos geht hervor, dass Emil den Abzug im Jahr 1995 machen ließ, zu einem Zeitpunkt, als er und mein Vater bereits alte Männer waren. 1995 – um diesen Dreh herum hatte das ganze Schlamassel angefangen.

 
    Weißt du, ich bin auch schon ein älterer Knabe. Dagegen bist du ein junger Hupfer.
     
    Wo du recht hast, hast du recht.
     
    Da ist einiges an mir alt geworden.
     
    Aber so alt man wird, man lernt immer noch etwas dazu.
     
    Ich nicht, leider. Bei mir ist nichts mehr drin. Und ich wäre sehr froh, wenn ich bald – bald – bald – hier nicht mehr einspringen müsste. Ich würde lieber ein Stückchen gehen und nichts tun.
     
    Du darfst nichts tun so viel du willst.
     
    Wenn du wüsstest. Ständig muss ich Sachen zusammenwinkeln. Aber ich will bald damit aufhören.

 
    Im Fallrohr der Dachrinne gluckerte das Wasser, ein gleichgültiges, betörend abweisendes Geräusch. Gegen das Wasser und die Zeit ist man machtlos.
    Ich machte den Vater auf den Regen aufmerksam. Er schaute zum Fenster und sagte:
    »Ach, die schönen Zeiten, als ich jung war, als ich jung war, war es draußen noch schön. Jetzt ist es grimmig – – grimmig.«
    Er hatte sein Gefühl für Zeit noch nicht ganz verloren. Aber er tickte nicht mehr richtig. Verwirrenderweise ging ihm ausgerechnet das Wissen um das Nachlassen seiner Fähigkeiten nicht verloren, er thematisierte es immer öfter, was ich umso erstaunlicher fand, als er gleichzeitig die alltäglichsten Dinge nicht mehr meistern konnte. Er wusste nicht, ob er Hunger oder Durst hatte, es war »gar nicht so leicht«, Essen und Trinken in gewohnter Weise zu bewältigen. Einmal hatte er ein Brot vor sich auf dem Teller und bedauerte, nicht zu wissen, was er damit tun solle. Er fragte mich um Rat, ich sagte:
    »Du musst nur abbeißen.«
    Mit dieser Anweisung konnte er nichts anfangen. Betrübt antwortete er:
    »Tja, wenn ich wüsste, wie das geht. Weißt du, ich bin ein armer Schlucker.«
    Dass er ein armer Schlucker sei, sagte er manchmal allepaar Stunden, aber keineswegs immer betont traurig, keinesfalls protestierend, sondern meistens auf eine freundliche Art, als müsse er eine wichtige Feststellung machen.
    »Ich bin einer, der nichts zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen.«
    Es waren Sätze wie dieser, die auch ein Held von Franz Kafka oder Thomas Bernhard gesagt haben könnte, ich dachte mir, da haben sich zwei gefunden, ein an Alzheimer erkrankter Mann und ein Schriftsteller. In Frost lässt Thomas Bernhard seinen Protagonisten sagen: Aber ich bin tief unfähig, ganz tief unfähig. Und an anderer Stelle: Mir ist alles unverständlich.
    »Ich begreife das alles nicht!«, sagte der Vater immer wieder, ein Kommentar zur Undurchschaubarkeit der Mechanismen, in die er sich gezogen fühlte. Und kategorisch der Nachsatz:
    »Ich bin nichts mehr.«
    Oft führte der Vater die Einschätzung seiner Lage detailliert aus, und es jagte mir kalte Schauer über den Rücken, mit welcher Abgeklärtheit er seine Selbstauskünfte

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