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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil Kostenlos Bücher Online Lesen
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vorbrachte.
    »Ich bin ein armer Krauterer«, sagte er. »Ja, ja, es war einmal. Meine Anfänge, die sind kraftvoll gewesen.Aber jetzt bin ich alt – – und mit dem Alter ist eine gewisse Unbedenklichkeit eingetreten – – nein, nicht Unbedenklichkeit – – nicht Unbedenklichkeit , das Wort ist schlecht – – es hat Probleme gegeben.«
    Er machte mit den Händen das Zeichen für Ende , indem er die Hände vor dem Bauch abwechselnd überkreuz undauseinander führte. Dann schaute er in verschiedene Schubladen, machte die Schubladen wieder zu. Auf meine Frage, was er suche, konnte er keine konkrete Antwort geben.
    »Nichts. Nichts zum Weiterleiten oder Weiterbearbeiten.« Er schickte ein »Ja, ja« hinterher und sagte:
    »Ich habe auch etwas gesehen, und das freut mich im Prinzip. Aber das liegt alles nicht mehr in meiner Verfassung.«
    »Wie würdest du deine Verfassung einschätzen, Papa?«
    »Schwach. Es ist nur mit Hilfe anderer möglich, etwas zu erarbeiten. Es ist mit mir nicht mehr viel los. Na, nu, es ist so, und ich kann es nicht ändern. Bei mir ist vieles schiefgelaufen, da ist vieles – – also, es hätte vieles besser ausgehen können. Aber ich trauere dem nicht nach. Ich beklage mich nicht, obwohl ich nicht viel erreicht habe in den letzten Zeiten. Am Anfang ging es noch, aber es ist dann immer schlechter geworden. Ich habe auch Pech gehabt.«
    »Was für Pech?«
    »Ja, in den Händen ist mir etwas kaputtgegangen. Dinge waren plötzlich nichts mehr wert. Dabei will ich noch nicht einmal anderen die Schuld geben, meine Sachen sind einfach schwächer geworden. Ich bin nicht mehr geeignet. Ich habe keine blühenden Zeiten mehr gehabt in den letzten – – was soll ich sagen? – – Monaten. Könnte auch länger sein.«
    »Wann waren deine blühenden Zeiten?«
    »Dem sinne ich nicht mehr nach. Ich hatte schon gute Zeiten, es hat mich oft gefreut. Aber, aber, aber, das ist vorbei.Ja, einiges ist bei mir kaputtgegangen, das weiß ich. Aber ich brauche es nicht mehr.«
    Er ging zur Tür, sagte: »Herrgoläss!« Fünf Sekunden später sang er ein wenig, schaute in die Töpfe auf dem Herd und verzog sich raus in die Laube. Als er von dort zurückkam, fragte ich:
    »Und? Was gibt es Neues?«
    »Bei mir nix, bei mir gibt es nichts Neues. Bei dir immer, und das freut mich. Weißt du, bei mir ist nichts mehr los, ich bin schwach, ich bin leistungsschwach, das hat sich so ergeben.« Er sang ein paar Takte. »Ich werde jetzt auch bald – – flachliegen.«
    »Was?«
    »Nichts tun. – – Weißt du, Wichtiges ist bei mir nicht mehr vorhanden. Das Gefühl habe ich. Ich kann es nicht beweisen, aber das Gefühl habe ich, bei mir ist nichts Wichtiges mehr vorhanden, ja, so ist es. – – Das, was noch zu erledigen ist, müssen andere erledigen.«
    »Da kannst du ganz unbesorgt sein. Ich kümmere mich darum.«
    Er lachte, griff nach meiner Hand und sagte:
    »Danke, ich möchte nur Dankeschön sagen. Ich bin ein armer Schlucker. Ich war auch einmal einer – ich danke dir, dass du keinen Wirbel machst, weil mit mir nichts mehr los ist.«
    »Papa, es ist alles gemacht, es ist für alles gesorgt. Jetzt geht die Sonne unter.«
    »Glaubst du das?«
    »Ich weiß es.«
    »Danke, dass du es mir sagst. Ich bin leider einer, der nicht mehr tüchtig ist.«
    Dann setzte er sich zu mir an den Tisch und legte den Kopf auf die am Tisch verschränkten Hände.
     
    Die Sorge, etwas könnte unerledigt geblieben sein, beschäftigte ihn oft. Als ich eines Abends vom Dachboden herunterkam, stieß ich im Flur des ersten Stocks auf Ludmilla und meinen Vater. Ludmilla wollte ihn gerade ins Bett bringen, aber er machte sich Sorgen, dass nicht alles erledigt war und jemand auf ihn wartete. Ich sagte ihm, für heute sei Schluss, alle Mann ins Bett. Er fragte bekümmert:
    »Und wer entlässt die Leute?«
    Ich nahm seine Hand, drückte sie kurz:
    »Ich entlasse die Leute, sie dürfen jetzt nach Hause gehen.«
    Hinter seiner Unsicherheit keimte ein Lächeln auf. Augenzwinkernd sagte er:
    »Du bist mein bester Freund!«
     
    Der tägliche Umgang mit ihm glich jetzt immer öfter einem Leben in der Fiktion. Wir richteten uns in all den Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und Hilfskonstruktionen ein, mit denen sein Verstand sich gegen das Unverständliche und die Halluzinationen wappnete. Der einzig verbliebene Platz für ein Miteinander, das sich lohnte, war die Welt, wie der Vater sie wahrnahm. Wir sagten so oft wie möglich Dinge, die seine

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