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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil Kostenlos Bücher Online Lesen
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Sicht bestätigten und ihn glücklichmachten. Wir lernten, dass die Scheinheiligkeit der Wahrheit manchmal das Allerschlimmste ist. Sie brachte die Sache nicht weiter und diente allen schlecht. Einem Demenzkranken eine nach herkömmlichen Regeln sachlich korrekte Antwort zu geben, ohne Rücksicht darauf, wo er sich befindet , heißt versuchen, ihm eine Welt aufzuzwingen, die nicht die seine ist.
    So schlugen wir einen Weg ein, der von der nüchternen Wirklichkeit wegführte und über Umwege zur Wirklichkeit zurückkehrte. Wenn der Vater nach Hause wollte, sagte ich, mal sehen, was ich für dich tun kann, ich glaube, ich kann dir helfen. Und wenn er sich nach seiner Mutter erkundigte, tat ich, als glaubte ich ebenfalls, dass sie noch lebte, und versicherte ihm, sie wisse über alles Bescheid und passe auf ihn auf. Das freute ihn. Er strahlte und nickte. Das Nicken und das Strahlen waren die Rückkehr zur Wirklichkeit.
    Die objektive Wahrheit kam oft unter die Räder, es kümmerte mich nicht, denn sie war wertlos. Gleichzeitig gewann ich zunehmend Freude daran, wenn meine Erklärungen in den Bereich der Fiktion abgleiten durften, es gab dabei nur den einen Maßstab: Je beruhigender für den Vater, desto besser.
    Vieles im alltäglichen Umgang war eine Frage der Technik . Die Ansprüche, die an uns gestellt wurden, waren ausgesprochen komplex, und so traurig es für meinen Vater war, dass sein Gehirn abbaute, für seine Angehörigen galt, dass Widrigkeiten den Verstand schärfen . Gespräche mit ihm waren eine gute Gymnastik gegen das eigene Einrosten.Sie erforderten ein beträchtliches Maß an Einfühlungsvermögen und Phantasie, denn im besten Fall gelang es durch ein richtiges Wort und eine richtige Geste, die Unruhe für einige Zeit zu beseitigen. Felix Hartlaub hat in einem anderen Zusammenhang gesagt: Eigentlich kann man hier nur als staatlich geprüfter Seiltänzer bestehen.
    Über ihre Erfahrungen mit dem Vater sagte Daniela, ins Bett gehen und aufstehen seien nicht so schwer, wenn sie ihm Fragen stelle.
    »Bist du müde?«
    »Ja.«
    »Willst du ins Bett gehen?«
    »Ja.«
    Man müsse versuchen, ihn mit Fragen dazu zu bringen, von sich aus den gewünschten Wunsch zu äußern. Auf diese Weise gelange ein wenig Ordnung in seine unordentliche Welt. Befehle hingegen funktionierten nicht. Wenn sie sage:
    »August, du musst jetzt ins Bett gehen.«
    Dann frage er:
    »Warum?«
    Einmal, als Daniela gebügelt habe, sei es dem Vater zu dumm geworden, er habe gesagt, er gehe nach Hause, aus, fertig, er lasse sich das nicht mehr gefallen. Daniela habe ihn ganz erschrocken angeschaut und gesagt:
    »August, ich bleibe nicht alleine hier! Was mache ich ohne dich? Wenn du gehst, dann gehe ich auch. Aber ich muss noch bügeln.«
    Das habe er eingesehen, und sie habe sich bei ihm bedankt.
    Daniela sagte, sie bedanke sich immer bei ihm, auch dann, wenn sie ihm gerade eine Gefälligkeit erwiesen habe. Das baue ihn auf, dann sei er zufrieden, und das führe dazu, dass eine gewisse Abhängigkeit entstehe. Er suche sie den ganzen Tag und laufe ihr hinterher. Er brauche Sicherheit, dann fühle er sich wohl. Er wisse sehr gut, dass er jemanden brauche, um nicht unterzugehen. Einmal habe er zu ihr gesagt:
    »Ich wohne hier in diesem Haus, das ich allein gebaut habe. Von meiner Familie ist im Moment niemand da, ich bin allein mit meinen Betreuerinnen.«
    Einmal, als ich ihm auf seine Frage, wer außer uns im Haus sei, die Antwort gab, niemand, wir seien im Moment alleine, beunruhigte ihn diese Auskunft. Er sagte:
    »Das ist schlecht, denn ich brauche Betreuung, ohne Betreuung bin ich aufgeschmissen.«
    Solche Feststellungen erschütterten mich immer, weil ich dem Vater eine so gesunde Einschätzung nicht mehr zutrauen wollte. Ich sagte rasch:
    »Ich bin da, ich sorge für deine Betreuung.«
    Sein Gesicht hellte sich auf, und er erwiderte:
    »Das rechne ich dir hoch an, dass du dir dafür die Zeit nimmst.«
    An anderen Tagen sagte er:
    »Für mich hat nie jemand etwas getan. Du vielleicht?«
    »Ja, schon. Manchmal.«
    Er widersprach voller Bitterkeit:
    »Du hast nie etwas für mich getan!«
     
    Von allen Betreuerinnen verstand es Daniela mit ihm am besten. Die beiden harmonierten in einem Ausmaß, das einen vor Verwunderung den Kopf schütteln ließ. Einmal kam ich dazu, als Daniela ihm Fotos von ihrem Mann zeigte. Der Vater sagte, den kenne er. Sie widersprach, unmöglich, ihr Mann lebe in der Slowakei. Der Vater sagte:
    »Du bist mir

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