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Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]

Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]

Titel: Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: KBV Verlags- und Mediengesellschaft
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Rechenschaft ziehen mochte. Aber es gab Ausnahmen. Menschen, die wie er einen starken Antrieb hatten, weiterzumachen, die vielleicht sogar mehr mit ihm gemeinsam hatten, als ihm lieb war.
    Jakob sah seinem Spiegelbild in die Augen. Er wusste längst, was dies war – der alte und ewig sich erneuernde Hass, der keine Ruhe gab, der ihn antrieb, der ihn nicht schlafen und auch nicht sterben ließ.
    Der Alte bückte sich leise ächzend und band seine Schuhe zu. Er warf noch einen Blick auf die Uhr. Kurz vor zwei. Dann zog er eine Jacke über und verließ das Zimmer. Er ging langsam, aber unbeirrt den Flur entlang, der direkt zum Haupteingang führte. Dort sah ihn die Nachtschwester mit großen Augen an. Noch erstaunter war der Blick der Heimleiterin Sibylle Klinkenberg.
    »Guten Abend, Herr Kratz«, sagte sie. »Ich wollte gerade ins Bett gehen. Und wohin wollen Sie, wenn ich fragen darf?«
    »Mir wurde bereits berichtet«, entgegnete Jakob, »dass Sie großen Wert darauf legen, über den Verbleib Ihrer Schützlinge möglichst gut informiert zu sein. Sobald ich weiß, wohin ich gehen will, verrate ich es Ihnen gerne.«
    Er ging weiter und hatte den Ausgang erreicht. Sibylle Klinkenberg rief ihm nach: »Herr Kratz – bitte passen Sie auf sich auf!«
    Der Alte nickte ihr freundlich zu und verließ das Gebäude. Er schlenderte über das Kopfsteinpflaster und schlug den Weg zum Kurpark ein. Als er diesen erreicht und den Schein der Straßenlaternen hinter sich gelassen hatte, wurde es sehr dunkel. Der Himmel war wolkenverhangen. Weder Mond noch Sterne spendeten Licht. Der schmale Pfad, der zwischen den Bäumen zu den Felsen des Effels führte, war kaum zu erahnen. Jakob wählte seine Schritte mit der Sicherheit des erfahrenen Nachtwanderers. Hin und wieder knackte unter seinen Schuhen ein Ast, den er nicht gesehen hatte. Ab und an raschelte es im Gebüsch neben oder hinter ihm. Der Alte drehte sich nicht um, und er fürchtete sich nicht. Er kannte die Geräusche der Nacht, sie waren ihm vertraut. Jakob wusste, dass man sie auch am Tage hören könnte, würden sie nicht vom Lärm geschäftiger Menschen und ihrer Maschinen überdeckt. Deshalb kam ihm die Nacht auch so viel ehrlicher vor als der Tag. Vielleicht war dies auch der Grund, warum er seit Treblinka nachts nicht mehr schlafen konnte. Wenn kein Schleier zwischen ihm und dem Grauen war, wie konnte er dann die Augen schließen und zur Ruhe kommen? Nicht die Angst war es, die ihm den Schlaf verwehrte – vielmehr das Wissen um all die schrecklichen Dinge, die einem Menschen, der sie nicht erlebt hat, sicher die größte Angst bereiten könnten.
    Jakob ging weiter, unbeirrt und ruhig. Als er den ersten Felsen erreichte, hielt er inne und lehnte sich an den rauen Sandstein an. Er berührte die feuchte, kühle Oberfläche mit seiner Wange. Diese Felsen waren so viel älter als er selbst. Er kannte sie seit seiner frühesten Kindheit. Sie rochen etwas nach Erde, auch nach den Flechten, die auf ihnen wuchsen, und nach etwas anderem, was der Stein selbst sein mochte, vielleicht etwas wie der Atem dieses Landes mit seinen Wassern, bewaldeten Hügeln und Felsen. Der Atem von etwas, das einmal seine Heimat gewesen war. Jakob fuhr langsam mit den Händen über den Sandstein. Er spürte, wie seine Haut sanft geschliffen wurde, und wie einzelne feine Körner sich vom Fels lösten und an seinen Fingerkuppen haften blieben. Es regte sich etwas in ihm, als wollten sich seine Augen gleich mit Tränen füllen. Doch der Alte wusste, dass dies nicht geschehen würde. Dieser Felsen und er, sie waren beide Kinder der Nordeifel, rau und hart. Jakob atmete tief durch und löste sich vom Stein. Er trat auf den Pfad zurück und setzte seinen Weg fort. Vielleicht würde er nach Zerkall hinuntergehen, dort wo Kall und Rur, die Flüsse seiner Heimat, sich vereinigten.
    Die Nacht war noch lang.

25. Kapitel
    Wie schon sehr oft in seinem Leben, war Jakob Kratz auch an diesem Morgen Zeuge des ersten Sonnenstrahls, der über Nideggen aufleuchtete, um kurz darauf wieder von der immer noch dichten Wolkendecke verschluckt zu werden. Jakob hielt inne. Seine Beine schmerzten. Er fragte sich, wie lange er noch seine schlaflosen Nächte auf diese Weise würde bewältigen können. Ein unwohles Gefühl beschlich ihn. Und es war etwa nicht die Sorge darum, wie er in Zukunft seine Nächte gestalten sollte. Ein untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass er beobachtet wurde. Mochte sein, dass der Wind ihm ein

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