Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
Kopf?«
»Warum läufst du manchmal orientierungslos herum und scheinst nicht zu wissen, wer du bist?«
Gustav stand auf und atmete tief durch. »Das weiß ich in der Tat nicht. Das wusste ich nie.«
Auch Jakob stand auf. »Wir sollten langsam losgehen. Aber vorher möchte ich dir noch etwas zeigen.« Der Alte bedeutete Gustav, ihm zu folgen. Sie betraten den Friedhof erneut. Dort zeigte Jakob auf einen Grabstein. Gustav las von einer weißen Tafel, die in den Granit eingelassen war: »Sara Vohs, geborene Cahn, gestorben 1933.«
Jakob meinte: »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies eine Großtante deiner Mutter, die ja auch eine geborene Cahn war. Dies ist deine Verwandtschaft. Mehr kann ich dir nicht anbieten.«
Gustav betrachtete den Grabstein schweigend. Er horchte in sich hinein, was er für die lange verstorbene Frau empfand. Er hatte nach dem Tod der Großeltern sein ganzes Leben in der Gewissheit verbracht, keine Familie zu haben. Daran änderte auch dieser Grabstein einer unbekannten Frau nichts. Er hob einen Stein vom Boden auf, rieb ihn in den Händen, um die Erdkrumen zu entfernen, und legte ihn auf den Grabstein. Dann ging er zum Ausgang und verließ den Friedhof. Jakob folgte ihm und schloss das Tor. Langsam gingen sie den Weg durch das Wäldchen hinunter. Der Pfad lag schon dunkel zwischen den Bäumen. Die Sonne war längst untergegangen.
42. Kapitel
Mächtige alte Eichen säumten den Eingang zu dem Anwesen. Lorenz betrachtete das Messingschild, auf dem in großen Lettern
Dr. Korger
stand, und passierte dann das doppelflügelige Eisentor. Bis zum Haus waren es noch gute fünfzig Meter. Vor dem Haupteingang der Villa bildete die Zufahrt einen kleinen Kreisel, in dessen Zentrum ein ausladender Rosenstock dunkelrot blühte. Davor stand ein imposanter, perfekt restaurierter Oldtimer, der Lorenz’ Aufmerksamkeit auf sich zog. »Kommissar Wollbrand würde einen Horch 853 noch in hundert Jahren auf Anhieb erkennen«, murmelte er. Lorenz ging einmal um das Fahrzeug herum, dann riss er sich los und trat an die Tür. Er betätigte die Klingel und flüsterte vor sich hin: »Bei der enormen Größe des Hauses musste Wollbrand auf eine lange Wartezeit gefasst sein.«
Doch bereits wenige Sekunden später öffnete sich die Tür, und eine junge Frau öffnete. Sie war hochgewachsen, überragte den Alten um Haupteslänge, und mit ihrem hellblonden Haar erinnerte sie Lorenz etwas an seine Enkeltochter. Jedoch trug Rita natürlich nicht die Arbeitskleidung einer Haushälterin.
»Guten Tag«, sagte die Blondine. »Was wünschen Sie?«
»Ich möchte zu Gernot«, sagte Lorenz.
»Sie haben aber keinen Termin, nicht wahr?«
»Brauch ich nicht«, log Lorenz. »Melden Sie bitte, ein alter Kamerad sei zu Besuch gekommen.«
»Kommen Sie doch bitte herein«, sagte die Frau und gab den Eingang frei.
Lorenz trat ein. Er befand sich in einer Eingangshalle, von der drei Treppen in verschiedene Bereiche des Obergeschosses wiesen. Im Eingangsbereich befand sich eine Sitzgruppe. Dorthin wies die Frau. »Bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz, ich sage Dr. Korger Bescheid.«
»Tun Sie das, junge Frau«, sagte Lorenz und setzte sich in einen Sessel.
Die Frau wandte sich zum Gehen, stockte jedoch und fragte: »Und wen darf ich melden?«
Lorenz antwortete: »Junker Lorenz. Er weiß dann Bescheid.«
Die Blondine nickte und verschwand, ohne jedoch eine der drei imposanten Treppen zu benutzen. Lorenz sah sich um. Das Haus schien schon älter zu sein. Es machte auf ihn den Eindruck einer Industriellenvilla aus den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts. Viel Granit und Marmor, an den Wänden Bilder, die er nicht genau zuordnen konnte. Bärbel hätte ihm sicherlich erklären können, dass der Stil neoklassisch, klassizistisch oder sonst was sei, er kannte sich da nicht aus.
Die Frau kehrte zurück und sagte: »Herr Dr. Korger empfängt Sie, obwohl er nicht viel Zeit hat. Folgen Sie mir bitte?«
Sie führte Lorenz durch einen Gang, an dessen Ende eine mit dunkelbraunem Leder beschlagene Tür offen stand. Lorenz fühlte sich sofort an eine Notar- oder Rechtsanwaltskanzlei erinnert. Er betrat den Raum. Hinter ihm schloss sich die Tür. Er sah sich um. Offensichtlich befand er sich in einer Bibliothek.
»Willkommen, Junker Lorenz«, hörte er eine Stimme sagen, jedoch sah er niemanden. Dann trat der weißhaarige Mann aus einer Ecke des Raumes, die durch ein Bücherregal etwas abgetrennt war, auf ihn zu. »So, ein alter
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