ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
„Überrascht? Ich weiß alles! Ich weiß, was zwischen euch läuft. Er hat sich mit seinem übertriebenen Einsatz für dich verraten. Ich lasse mich nicht von einem fehlgeschlagenen Experiment verarschen! Ich bin schließlich jemand !“
Mit Gewalt schob er mein Unterhemd nach oben und entblößte meinen Oberkörper.
„Nein.“ Sagte ich erneut mit so schwacher Stimme, dass es kaum zu hören war. Mein Verstand und auch mein Körper waren noch immer vor Schock erstarrt. Mir war bewusst, was gleich mit mir passieren würde, doch es fühlte sich an, als befand ich mich gar nicht in der Realität. Als wäre ich gar nicht in meinem Körper, sondern würde alles von außen beobachten. Und wenn es nicht echt war, musste ich auch nichts tun. Es nur irgendwie durchstehen. Die Augen schließen.
Mein Kopf fiel zur Seite und ich sah Radu. Sein Brustkorb bäumte sich noch einmal auf und Blut begann aus seinem Mund zu laufen. Es war so… rot und ließ seine Haut noch blasser aussehen. Dann sackte sein Körper in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Die Zeit blieb stehen, denn mir wurde schlagartig bewusst: Es war die Sekunde, in der er gestorben war. Mein Bruder war tot.
Es waren nicht die Bilder meiner Kindheit, die vor meinem geistigen Auge abliefen, sondern die meiner Jugend. Es war Radu, der mir geholfen hatte die Person zu werden, die tatsächlich stark genug war meinem Vater in die Fußstapfen zu folgen. Er hatte meinen Verstand und mein Herz gesund gehalten, als meine Welt auseinandergebrochen war. Er war ein guter Mensch. Er hatte für mich gesorgt. Selbstlos. Und jetzt hatte man ihn mir weggenommen, so wie man mir meinen Vater weggenommen hatte. Dies war nicht die Realität. Es war ein Alptraum, doch er fühlte sich intensiver an als die Wirklichkeit. Diese Schmerzen. Dieser Hass. Ich biss mir auf die Unterlippe um die Schreie in mir gefangen zu halten und meine Hände ballten sich unweigerlich zu Fäusten. Es fühlte sich an, als würde ich jeden Augenblick einfach explodieren. In diesem Moment begriff ich, dass die Medikation nicht wirkte. Ich wurde nicht schwächer sondern stärker. Stark vor Zorn. Er hatte meinen Bruder ermordet. Er hatte meinen Bruder ermordet!
Emil packte meine Hose und wollte sie mir vom Körper zerren.
„Nein…NEEEIN!“ Mit aller Kraft holte ich aus und rammte ihm mein Knie mit einem Aufschrei zwischen die Beine. Er jaulte vor Schmerzen auf, doch ich rollte mich zurück und brachte ihn mit einem Tritt ins Gesicht zum Schweigen. Sein Körper wurde durch die Wucht zurückgeschleudert und er landete auf dem Rücken. Ich wusste nicht woher den Verstand nahm, um so zu agieren, wie ich es gerade tat, doch ich wusste woher ich die Kraft und Präzision dafür nahm. Das war alles, was jetzt zählte.
Blitzschnell zückte ich das Messer und rammte es in seine Brust. Mitten ins Herz. Mit aller Kraft zwang ich die Klinge so tief hinein, wie es nur ging und drückte ihn dabei zu Boden. Meine Hände fingen an zu zittern, so fest hielt ich den Griff umschlossen, bevor ich die Klinge mit einem schnellen Ruck drehte. Ich hörte, wie sie über eine seiner Rippen scharrte und fühlte, wie sie das Gewebe zerriss. Sofort schoss das Blut aus der Wunde hervor und bahnte sich seinen Weg zu seinem Hals. Emil röchelte noch einmal kurz auf und bewegte sich dann nicht mehr. Seine leblosen Augen starrten voller Horror an die Decke. Eingefroren in der finalen Emotion seines letzten Augenblicks. Mitleid empfand ich keines. Ich empfand gar nichts. Es war so schnell vorbei. Mein Verstand schlug Haken von einem irrwitzigen Gedanken zum nächsten. Wieso ging es so schnell? Warum brauchte ich nicht mehr Kraft? Würde mehr Blut aus der Wunde laufen, sobald ich die Klinge herauszog? Warum hatte ich das getan? Was hatte ich nur getan? Es war egal… Alles war egal.
Ich zog das Messer wieder aus seiner Brust und stürzte zurück. Hastig schnappte ich nach Luft, denn mein Herz raste und das Adrenalin in meinem Blut brachte meinen Körper zu Höchstleistungen. Nun fuhr er sich selbst langsam runter und es tat beinahe weh. Diese Schwere. Sie überkam mich wie ein riesiger Sandsack, den man auf meine Schultern fallen gelassen hatte. Ich zitterte wieder. War das alles wirklich gerade passiert? Fiel ich langsam in einen Schockzustand? Nein,… ich konnte noch darüber nachdenken, also nein. Was nun?
Ich ließ das Messer fallen und zog mich zu Radus leblosem Körper.
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