ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
„Radu…“ Ich nahm seinen Kopf und legte ihn auf meinen Schoß. Ganz vorsichtig. „Radu. Es tut mir leid. Bitte verzeih mir. Verzeih mir…bitte, verzeih mir.“ Flüsterte ich gebrochen. Den Tränen nahe. „Ich werde leben. I-Ich werde leben. Für dich. Für mich. Versprochen.“ Ich beugte mich runter und küsste seine Stirn. „Ich liebe dich.“ Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, überkam mich die Wucht meiner Emotionen. Die Schmerzen, die ich fühlte waren unbeschreiblich. Ich hatte nicht irgendjemanden verloren. Ich hatte das letzte Mitglied meiner Familie verloren. Ich hörte nicht auf seine Stirn zu küssen, während meine Tränen anfingen sich mit seinem Blut zu vermischen. „Ich liebe dich. Ich liebe dich, Radu.“ Sagte ich immer wieder voller Verzweiflung und in der wahnwitzigen Hoffnung, er würde sie noch hören.
Ganz vorsichtig und liebevoll strich ich ihm das Haar aus dem Gesicht, als würde es noch einen Unterschied machen. Ich hielt nur noch seinen leeren Körper in den Armen. Mein Bruder war längst fort. Alles, was einmal Radu war, gab es jetzt nicht mehr. Mein Brustkorb schnürte sich zusammen und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich drückte meine Stirn gegen seine und schluchzte voller Trauer. Ich küsste noch einmal seine Augen und seine Wangen. Und zum Schluss seine Lippen. Ganz vorsichtig. Als würde er nur schlafen. Sie waren noch warm. Ich legte meine Hände in seine. Radu war kein emotionaler Mensch. Er trug nie etwas bei sich, das ihm wichtig gewesen wäre. Nichts, was ich hätte mitnehmen können. Keine Erinnerung an ihn. Nur die Gedanken an ihn und mein Leben. Sie hatten ihn von mir weggerissen. Es tat so weh. So unbeschreiblich weh. Ich wippte vor und zurück, versuchte irgendwie die Schmerzen in Kanäle zu leiten, um nicht mehr so überwältigt zu sein. Es gelang mir nicht. Sie füllten mich aus. Warum nur war das hier so viel schlimmer als jedes einzelne Mal, an dem ich selbst dem Tode näher gewesen war als dem Leben? Mein ganzer Körper schüttelte sich und nun fühlte ich eine Leere, die sich schleichend von dem Punkt in meiner Brust ausbreitete, an dem der Schmerz am schlimmsten war. Sie ergriff mich langsam und flüsterte mir zu, dass das alles nicht real war. Ich hatte noch nie einen Schock erlitten und doch wurde mir nun bewusst, dass dies der Moment war. Ich stand kurz davor. Mir wurde schwindelig und mein Herz pumpte wie verrückt, nur wich das Blut in Regionen, die einfach zu weit entfernt waren. Ich wollte das nicht. Ich wollte das einfach nicht. Was wollte ich nicht? Mein Kopf war so leer. Das alles tat so unfassbar weh. Schluchzend und schüttelnd drückte ich wieder meine Stirn an Radus. Mein Gesicht musste wie eine tränenverschmierte Maske des Grauens wirken. Ich hatte die Kontrolle über meine Gesichtszüge verloren. Langsam entglitt mir jegliche Kontrolle. Nein! Das durfte nicht passieren. Ich musste leben! Für Radu. Für ihn musste ich meinen Verstand zusammenhalten und einen Punkt finden, der hinter dem Schmerz lag. Beruhig dich, Milla. Verdammt, reiß dich zusammen!
Nur noch für wenige Sekunden schloss ich die Augen und wischte die Tränen fort. In meinem Kopf hörte ich seine Stimme. Sie sagte nichts von Bedeutung. Keine Weisheit, die mich leiten sollte. Stattdessen spulte mein Unterbewusstsein jene Worte ab, die er am häufigsten zu mir gesagt hatte. „Jetzt mach schon.“ . Nichts weiter. Nur diese drei Worte. Wenn ich nicht aufstehen wollte. Wenn ich zu frustriert war, um etwas zu essen. Immer, wenn ich mich stur stellte. Es war Zeit zu gehen. „Jetzt mach schon.“ . So genervt. Gar nicht liebevoll. Ich atmete ruhig ein und aus. Er würde es nie wieder sagen. Das musste ich lernen zu akzeptieren. Es war nur noch in meinem Kopf. „Jetzt mach schon.“ .
Ich legte Radus Kopf ganz vorsichtig wieder ab, um meine Kleidung zu richten. Ich knotete die Enden meines Hemdes zusammen und wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht. Ich wollte ihn so nicht liegen lassen. Das war nicht richtig, aber ich hatte keine Wahl.
„Radu, ich tue alles für dich. Ich werde leben. Ich verspreche es.“ Flüsterte ich wieder mit getrübter Stimme und sofort wieder den Tränen nahe. Dann nahm ich sein Namensemblem von seiner Uniform und heftete es an meine Brust. Zumindest seinen Namen würde man nie vergessen. Ich würde ihn tragen. Ich würde ihn nicht vergessen. Niemals.
Zum Abschied drückte ich noch ein letztes Mal mein Gesicht
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