ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
Welt würde auf dem Kopf stehen. Das war unglaublich. Künstliches Licht erhellte einige Teile der Straßen, aber es war blau und es wirkte so kalt. Es gab mir das Gefühl, als wäre die Stadt in einen ewigen Winter ohne Schnee gehüllt. Immer wieder tauchten Leuchtschriften auf. Sie wanderten knapp über den Hausdächern der untersten Ebene langsam von oben nach unten. Sie schienen dabei frei zu schweben. Nachrichten, Werbung und unzählige, andere Informationen. Es war eine regelrechte Flut aus Buchstaben und Bildern. Da war kein Bildschirm, auf den sie projiziert wurden. Sie waren einfach da. Dicht über den Köpfen der Menschen verschwanden sie und begannen erneut herab zu schweben. Hologramme. Es gab also doch Schnee. Diese leuchtenden Schriften rieselten auf die Menschen ein, wie bunter, fluoreszierender Schnee in dieser eisblauen Stadt. Aber nichts blieb liegen. Je länger ich hinsah, desto mehr begannen meine Augen zu schmerzen. Die umherlaufenden Menschen schienen von dem Leuchtspektakel gar keine Notiz mehr zu nehmen. Die meisten von ihnen waren fast gänzlich verhüllt. Sogar ihre Augen bedeckten fast alle mit kleinen, schwarzen Brillen. Sie erinnerten mich an die verspiegelten Schwimmbrillen, die ich damals beim Training getragen hatte. Bei manchen schaute unter dem Stoff ihrer Kleidung die Maske hervor, die scheinbar alle über Mund und Nase trugen, andere versteckten sie nicht und einige, wenige trugen keinen Schutz. Ich konnte nicht anders, als mir die Gesichter dieser Personen besonders gründlich anzuschauen. Es war offensichtlich, dass das Leben hier unten auf Dauer nicht gesund zu sein schien, aber sie unternahmen nichts. Ihre Gesichter waren leer und ihre Blicke streiften das Fahrzeug, in dem wir saßen, aber sie sahen uns nicht. Sie konnten Nichts sehen. Nicht das Innere der Läden oder Wagen. Nicht die Gesichter der anderen. Nicht einmal das Ende der Straße, denn alles lag in künstlicher Dunkelheit, nur sporadisch erhellt. Sie wandelten durch die Straßen und suchten nie den Blick einer anderen Person. Ich wurde traurig.
„Das ist es also.“ Beim Klang von Radus Stimme riss ich mich vom Anblick der Stadt los und sah zu ihm. „Das Herz von Russland.“ Fügte er noch mit leicht bedrückter Stimme hinzu. Er drehte sich zu mir und für eine Weile saßen wir nur schweigend da, ohne den Blick von einander zu nehmen. Seine Worte drangen in mich ein. Es war noch nicht einmal so sehr der Inhalt, vielmehr der Tonfall seiner Stimme. Schwach und geschlagen. Enttäuscht. Ich fühlte das gleiche. Obwohl es eine andere Welt war und mich alles faszinierte, kam mit jedem neuen Winkel, auf den mein Auge fiel, etwas mehr Traurigkeit und eine tiefe Beklemmung. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen.
„Das hatte ich die ganze Zeit befürchtet.“ Während Radu sprach, suchten seine Augen etwas in meinem Blick.
„Was meinst du?“ Fragte ich. Meine Stimme war so leise, als wäre ich zu schwach zum Sprechen. Meine Worte waren in meine Emotionen getaucht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sich meine Hände in den Stoff des Sitzes gekrallt hatten.
„Dass du das alles hier siehst. Siehst wie es wirklich ist und ich dann diese Enttäuschung in deinem Gesicht sehen muss.“ Entgegnete er mir unverblümt. Ich sah kurz nach vorne. Wir sprachen nicht sehr laut und der Wagen war groß. Ich war mir die ganze Zeit nicht sicher, ob Sormansk und der Fahrer uns hören konnten, oder sich überhaupt auf unser Gespräch konzentrierten, aber scheinbar taten sie es nicht. Bei Radus Worten zuckte Emils Kopf nicht einmal einen Millimeter. Oder es ließ ihn einfach kalt, dass unser Eindruck kein besonders positiver war.
„Du kennst mich eben.“ Gestand ich. Ich wusste nicht, was ich sonst dazu sagen sollte.
„Die Dinge sind meistens nicht so schön, wie man sie sich ausmalt.“ Flüsterte Radu belehrend.
„Wusstest du davon?“
„Hm?“ Radus Augenbrauen schossen nach oben „Ob ich wusste, was uns hier erwartet? Woher denn? Ich bin auch zum ersten Mal außerhalb der Festung. Aber ich habe mir keine großen Hoffnungen gemacht, hier so etwas wie das gelobte Land zu finden. Du weißt, ich bin Realist.“
Er sah mich immer noch an, aber ich wendete den Blick ab. Trotz allem fesselte mich der Anblick dieser Stadt und ich musste einfach alles sehen.
„Ja, das weiß
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