ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
Lebensretter zusammenbringen. War ich naiv?
„Du kennst ihn einfach nicht so gut, wie ich ihn kenne.“ Meine Stimme war leise, fast nicht zu hören, doch Radu war es nicht entgangen. Sein Blick wanderte zu Boden und er schnaubte kurz auf.
„Das war offensichtlich.“ Seine Worte trieften vor Verachtung und verfehlten damit ihre offensichtliche Aufgabe nicht. Ich spürte einen Stich in meinem Brustkorb, als hätte man mich bei etwas Verbotenem ertappt.
„Was meinst du damit?“
„Du hast für ihn heute jede Deckung fallen lassen… Um ehrlich zu sein, war das ein echter Schock für mich.“ Radu schüttelte den Kopf und ich erstarrte wieder zu Stein. Ich war perplex. Wie konnte er meinen Zusammenbruch nun so gegen mich verwenden? Er zwang mich förmlich dazu ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben und ich fühlte mich abermals manipuliert. Nur hatte ich nie gedacht, dass es einmal Radu sein würde, der das mit mir tat.
„Würdest du ihn so kennen wie ich, wäre es vielleicht nicht so ein Schock für dich gewesen. Aber es ist gut zu wissen, dass du denkst, meine Tränen konnten ausschließlich ihm gelten. Dann weiß ich jetzt wenigstens auch, wie du mich einschätzt.“ Sagte ich mit leisem Groll in der Stimme. Ich sah ihn direkt an und wartete auf die nächste Runde dieses Streits, doch sie kam nicht. Er ballte noch einmal die Hände zu Fäusten und sein Blick wurde eiskalt. Dann drehte er sich um und verließ wortlos den Raum. Für eine ganze Weile saß ich nur so da und starrte auf meine Schuhe. Ich war leichtgläubig gewesen. Doch es spielte keine Rolle. Ich wollte Aljoscha vertrauen. Würde ich damit aufhören, bedeutete es auch das Ende eines Konstrukts, das ich brauchte, um hier nicht den Verstand zu verlieren. Ich wollte nicht noch mehr aufgeben müssen. Es war bereits so gut wie nichts mehr übrig. Und immerhin waren seine Schmerzen meine Schuld. Es war nur fair, ihm jetzt nicht den Rücken zuzukehren. Auch, wenn die Tatsachen gegen ihn sprachen.
9
Ich lag in meinem Bett, das ich schon für mehr als zwei Tage nicht verlassen hatte. Der Anblick des Flüchtlingslagers, mein Zusammenbruch, der Streit mit Radu. All das belastete mich und machte es mir fast unmöglich, zu meiner gewohnten Fassade aus Stärke und Abgeklärtheit zurückzufinden. Ich konnte die Gedanken daran auch nicht beiseiteschieben. Sie waren einfach da, mit all den Emotionen, die mit ihnen verbunden waren. Ich wollte mich vor allem verstecken und irgendwie untertauchen, bis es endlich nachlassen würde, doch das schien einfach nicht zu passieren. Und da auch niemand zu mir kam, blieb ich einfach liegen. Den Tag zuvor hatte ich noch ein wenig Hoffnung gehabt, Radu würde zurückkommen und wieder mit mir reden. Das war nicht geschehen. Vielleicht ließ man ihn nicht zu mir, vielleicht wollte er auch nicht kommen. Er fühlte sich von mir verraten und er war wütend, daran gab es keinen Zweifel. Auch Emil und Ibrahim kamen nicht. Nicht einmal Veit oder Anna waren in den letzten Tagen bei mir gewesen. Drei Mal am Tag brachte mir jemand eine Mahlzeit, darüber hinaus: Nichts. Ich fragte auch nicht nach jemandem. Früher oder später würde irgendwer zu mir kommen. Immerhin brauchten sie mich noch… oder vielleicht nicht? Mir fiel wieder ein, dass Emil meinen Zusammenbruch mit angesehen hatte. Es konnte durchaus sein, dass er Rubinov davon erzählt hatte. Es war sogar sehr wahrscheinlich und nun hatten sie entschieden, dass ich emotional nicht stabil genug war. Ich wurde vermutlich hinter meinem Rücken zu einem Risikofaktor erklärt und abgeschrieben. Ich verstand nur nicht, warum ich dann noch hier war. Kaum hatte ich mir selbst diese Frage gestellt, ging die Tür auf und Ibrahim betrat den Raum. Er blieb am Eingang stehen und sah mit einem verächtlichen Blick auf mich runter.
„Steh auf, wir müssen los.“ Sein Anblick brachte meine Nackenhärchen immer noch dazu sich aufzustellen, aber die Furcht vor ihm war schon deutlich weniger geworden.
„Wohin gehen wir?“ Meine Stimme war ganz kratzig vom seltenen Gebrauch der letzten Tage. Ibrahims Blick wurde noch eine Spur abschätziger.
„Zum Training. Wir haben das besprochen. Jetzt steh auf.“ Befahl er.
„Warum hatte ich die letzten Tage kein
Weitere Kostenlose Bücher