Altenberger Requiem
Schreckstarre zu lösen. Viel zu spät natürlich, um ihr noch zu folgen. Und wie ein Vollidiot würgte ich den Wagen ab, bevor es mir endlich gelang, ihn ein Stück vorzufahren und in Wonnes Parklücke zu manövrieren.
Kaum hatte ich das geschafft, begannen sich in mir die Kräfte zu regen. Wenn Wonne schon nicht mehr da war, würde ich dieses Schwein Mathisen zur Rede stellen. Was hatte er gemacht, dass sie so sauer und verzweifelt war?
Was, verdammt noch mal, hatte er meinem Mädchen angetan?
Erst jetzt lichtete sich der Nebel in meinem Hirn, und es zeichnete sich eine schreckliche Erkenntnis ab: Was, wenn er meinem Mädchen genau das angetan hatte, was Frauen am meisten verletzte? Wenn er sie betrogen hatte? Was wiederum bedeutete, dass Mathisen und Wonne - Wonne und Mathisen …
Die Lava in mir erkaltete zu einem schmerzenden harten Gesteinsbrocken.
Ich musste mich am Auto festhalten, so schwach wurden meine Beine.
Ich schleppte mich in Richtung der Plexiglasschilder und hatte das Gefühl, mit jedem Schritt, den ich tat, kleiner zu werden. Kein Wunder. Ich ging leicht gebeugt. Der Gesteinsbrocken in mir zog mich nach unten.
Fast hätte ich es nicht geschafft, dem silbernen Mercedes auszuweichen, der plötzlich aus der Ausfahrt geschossen kam und quietschend an der Straße bremste. Am Steuer saß Mathisen.
Er schien mich nicht zu erkennen. Er beachtete mich noch nicht mal. Ich sprang zur Seite. Er gab Gas und fuhr in die Richtung, in die auch Wonne verschwunden war.
Ich musste mich abstützen. Legte die Hand auf die kühle Mauer. Atmete ein paarmal tief durch. Schließlich wischte ich mir mit dem Ärmel das Gesicht ab.
Als ich das Gefühl hatte, wieder einigermaßen gesellschaftsfähig auszusehen, betrat ich den Hof. Als Erstes wurde die Fensterfront des Noni-Ateliers sichtbar. Trotz meiner Verfassung musste ich lächeln, als ich zwei täuschend echt aussehende Schaufensterpuppen sah, die vor dem Eingang postiert waren. Es waren zwei kleine Jungs im Krabbelalter, mit identischen putzigen runden Gesichtern und dunklem Haar. Nette Idee, dachte ich, mit Kindersegen Brautkleider zu bewerben.
Dann hob der eine Junge die Hand. Er war keine Puppe, sondern echt. Beide waren Kinder aus Fleisch und Blut. Neben ihnen lag Spielzeug. Im Inneren des Ladens erkannte ich Leute.
Zwillinge, dachte ich. Zwillinge sind immer eine Erklärung. Vielleicht war das eben gar nicht Wonne, sondern ihre Schwester.
Eine Schwester, die dasselbe Auto fährt, die ebenfalls Mathisen kennt…
Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn.
Zur Agentur ging es eine Treppe hinauf. Als ich den Stufen folgte, riss ich mich zusammen wie noch nie in meinem Leben. Ich drückte den Knopf. Es schellte, und ich fragte mich, was ich eigentlich hier wollte. Mathisen war nicht da. Ich konnte mit ihm nicht über irgendwelche Musiker aus den Siebzigern reden.
Umso besser. Schon der Gedanke, mich mit ihm in einem Raum aufhalten zu müssen, erzeugte Brechreiz. Vielleicht wusste jemand anders etwas.
Die Tür summte. Ich schob sie auf.
»Oh, guten Tag, Herr Rott.«
Ich fand mich in einem Großraumbüro wieder. Zwei gläserne Schreibtische trugen sauber geschichteten Papierkram und weiße Computerbildschirme mit dem Apfelsymbol.
Vor mir stand Hermine Weißenburg, die gerade einer jungen blonden Frau, die aus einem Nebenraum hereingekommen war, ein Zeichen gab. »Es ist schon in Ordnung, Simone. Das ist Herr Rott, wir kennen uns.«
Sie hielt mir die Hand hin. »Sind Sie zufällig hier vorbeigekommen? Wir haben uns ja auf Juttas Party kaum unterhalten können. Sie und Ihre Begleiterin waren die Einzigen, die nicht von der Rallye zurückgekommen sind. Es war ein so schöner Abend.«
Sie war sehr freundlich, obwohl sie auf den ersten Blick streng wirkte. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug; ihr Haar, genauso weiß wie das ihres Mannes, war zu einem Dutt zusammengesteckt. Ich überlegte, wie alt sie sein mochte. Sicher an die siebzig. Älter als ihr Mann. Aber vielleicht täuschte das auch. Mathisen hätte ich eine Schönheits-OP zugetraut. Die Frau hier stand zu ihren Falten.
»Ich bin gerade beruflich mit einem Fall beschäftigt, bei dem ich eine bestimmte Information brauche, zu der Sie mir vielleicht verhelfen könnten.«
Ich war selbst erstaunt über den Bandwurmsatz, den ich erzeugt hatte. Dass ich dazu in der Lage war, musste an der gediegenen Umgebung liegen. Sie wirkte seltsam beruhigend.
Frau Weißenburg wies auf einen der Stühle neben dem
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