Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
Vom Netzwerk:
in Einklang zu bringen als die ohnmächtige Abhängigkeit von allerhöchster Gnade. Im Abgleich mit dem Menschenbild der Moderne wirken die fernöstlichen Transzendenzentwürfe zeitgemäßer.
    Das Angebot in dem großräumigen Basar mit seinen unzähligen Auslagen reicht von einem aggressiven Islam über die Rituale der Schamanen, die anschmiegsamen, oft gottlosen Formen fernöstlicher Entwürfe und deren Verschmelzung mit den klassischen, monotheistischen Traditionen bis hin zu den großen abendländischen Kirchen. Dazwischen tummeln sich Manichäer, Ophiten, Karpokratianer und was die ersten drei Jahrhunderte des ungebundenen Christentums sonst noch an Sekten hervorgebrachthaben. Die christlichen Kirchen selbst tun sich jedoch schwer mit der überraschenden Nachfrage nach Spiritualität.
    »Die Kirche ist in hohem Maße in ihrer Dogmatik erstarrt und begreift nicht, dass Glaube und die Öffnung zum Glauben hin vor allem über kraftvolle Emotionen läuft«, hat mir ein Mitarbeiter der Deutschen Bischofskonferenz kürzlich bekümmert erzählt. »Solange wir das nicht begreifen und sogar hinter die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückfallen, werden wir uns gegenüber den neuen Glaubensformen kaum durchsetzen können.«
    Claudia, geborene Stüber, verehlichte Stiegmann, geschiedene Traut, vertritt auf ihre Weise den Gegenentwurf zum abendländischen Monotheismus. Sie hat jede Bewegung zur Verbesserung der Lebensumstände mitgemacht, die in den zurückliegenden dreißig Jahren angeboten wurde. Nun ist ihr Haar, das sie immer noch offen trägt, grau geworden, und seine Spitzen liegen ungebärdig und sperrig auf ihren Schultern. Die ehemals blauen Augen haben ihre Tiefe verloren und beginnen sich hinter einem Kranz kleiner Falten zu verbergen. Ihre Kleidung ist von jener sanften Farblosigkeit, die Naturprodukten eigen ist.
    Mit Mitte fünfzig hat Claudia, wie ich sie umstandslos nennen darf, ihre vielfältigen Erfahrungen auf vier Kontinenten und in ungezählten Lebenszusammenhängen gebündelt und mit Zutaten aus Buddhismus und der Kritik an westlichen Konsumgewohnheiten zusammengerührt, bis eine eigene Lebensphilosophie dabei herauskam. Die gibt sie nun gegen Gebühr in einem Berliner Hinterhof preis.
    Im Kern lehrt sie, dass alle schmerzlichen menschlichen Erfahrungen Produkte unserer Einbildung seien. Die gilt es durch eine radikale und schonungslose Vertiefung ins eigene Ich unschädlich zu machen. Ohne Anleitung freilich geht das nicht. Die stellt sie in einer Mischung aus Meditation, Tanz und Gesang, Bewegung und Musik bereit.
    Auf der höchsten Stufe der Kontemplation glaubt sie auch den Tod zu überwinden und findet in Furchtlosigkeit und Gelassenheit bereits im Diesseits Erlösung.
    »Keiner muss sterben, wenn er sich dagegen entschieden hat«, fasst sie ihre tiefsten Erkenntnisse zusammen und fügt lachend hinzu: »Das klingt sicherlich unrealistisch.« Aber, ihre Stimme wird entschlossen, der Tod sei »widerwärtig« und sein Ergebnis »barbarisch«. Bei dessen Überwindung kommt Claudia ohne höheres Wesen aus. Ihr Gott ist der Mitmensch, was der gerne zur Kenntnis nimmt.
    Seit Kurzem bietet sie gezielt Kurse für Kunden meiner Alterskohorte an. »Das ist annähernd meine Generation«, erläutert sie. »Ursprünglich kamen vor allem jüngere Leute und verheiratete Frauen, die sich zu Hause langweilten, jedoch den Mut nicht aufbrachten auszubrechen. Die suchten Zuflucht bei mir und im eigenen Ich. Dann ließen sich auch Ältere blicken, die nach einem langen Leben ohne kirchliche Bindungen etwas ganzanderes wollen, nämlich Glaube. Das war mir zunächst fremd. Heute habe ich mein Angebot auf die neue Klientel zugeschnitten. In diesen Kursen beschäftigen wir uns von Beginn an mit den Themen Siechtum, Tod und Wiedergeburt. Das wird angenommen. Auf jeden Fall kann ich über mangelndes Interesse nicht klagen.«
    Hildegard und Hannelore sind seit einigen Wochen Kundinnen im Hinterhof. Die beiden leben zusammen in einer dunklen Dreizimmerwohnung, deren einziger Vorteil es ist, dass sie zur ebenen Erde liegt. Beide gehen schwer und werden nach den Vorschriften der Pflegestufe eins versorgt.
    Hilde und Lore, wie sie sich gut gelaunt vorstellen, haben vier Jahrzehnte gemeinsam an einer Berliner Grundschule unterrichtet. Seit sieben Jahren sind sie in Rente. Das Alter fordert sichtbar seinen Tribut, und die Frage nach dem Ableben und dessen Folgen wird täglich drängender.
    »Mit Gott hatten wir

Weitere Kostenlose Bücher