Altern Wie Ein Gentleman
früher nichts am Hut«, berichten beide übereinstimmend.
»Vor drei Jahren haben wir dann begonnen, Gottesdienste zu besuchen, in der Bibel zu lesen, und Überzeugungsabende in unserer Gemeinde belegt«, fährt Hilde fort. »Aber weit sind wir nicht gekommen. Unsere Fragen wurden nicht beantwortet. Es blieben Zweifel. Jetzt haben wir Claudia entdeckt. Das gibt uns was. Fragen Sie nicht was – ich könnte es nicht beschreiben. Aber hier drin«, Hilde deutet auf ihr Herz, »dort spür ich was. Du doch auch?«, wendet sie sich an ihre Freundin, die stumm nickt.
Wer den Tod ernst nimmt und ihn nicht nur als ein Tor zwischen zwei Welten begreift, wie Hilde und Lore, für den ist er der endgültige Abschluss des Lebens. Dem Atheisten sind damit zwar alle Fragen beantwortet, aber Furcht und Grauen keineswegs stillgelegt. Für den Gläubigen, der im Besitz von Gewissheit ist und beruhigt dem Ende entgegenblicken könnte, beginnt das Nachdenken über die ewige Verdammnis und ob er ihr entkommen wird. Irgendwo dazwischen treibe ich mich mittlerweile umher und schwanke zwischen dem Glauben als Denknotwendigkeit oder Denkmöglichkeit. Ich suche keine Antwort auf die drei großen Fragen: Wo komme ich her? Was tue ich hier? Wo geht es hin? In meinem Alter scheinen sie mir naiv und vor allem zu spät gestellt. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen wiederum verstößt gegen die guten Sitten anständigen Denkens. Es ist eine Art Niemandsland, in dem ich mich umschaue.
»Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt«, lese ich bei Dostojewski. Was für ein gewichtiger Satz, und wie weit entfernt von der Realität meiner Generation, die trotz Glaubensferne und rebellischer Gestik ein friedfertiges Leben in den vorgeschriebenen Grenzen geführt hat!
In William James’ berühmter Vorlesung über die »Vielfalt religiöser Erfahrung« findet sich der Hinweis, das religiöse Empfinden zähle zu den »wichtigsten biologischen Funktionen« der Menschheit. Ist die Sehnsucht nach diesseitiger Gewissheit also nur ein natürliches Bedürfnis unter anderen? Dann wäre es bei mir schwach entwickelt, und ich könnte die Suche beruhigt aufgeben.
Die Pforten zum Jenseits hatten sich für meine aufgeklärte Vernunft irgendwann im Lauf meines Lebens unbemerkt und ohne mein Zutun geschlossen. Sie beginnen sich jetzt langsam wieder zu öffnen, aber ich finde keinen Weg hindurch, da ich keine Erfahrungen mit glaubensnahen Denkvorgängen und Gedanken habe. So irre ich gegenwärtig ziellos umher.
Doch seit wann und warum habe ich dieses Bedürfnis, über etwas nachzudenken, das mir über Jahrzehnte hinweg gleichgültig gewesen ist? Ich habe diese Überlegungen nicht in meine Stube gebeten. Sie nisten sich ohne mein Zutun ein. Mit freiem Kopf wäre mir wohler. Ist dies die späte Rechnung für ein sorgloses Leben, in dem gescheiterte Beziehungen die bedeutendsten Untiefen gewesen sind?
Ich habe mir deshalb, wie ich das immer getan habe, eine kleine Bibliothek zum Thema eingerichtet. Dort finden sich seit Neuestem Darstellungen der großen monotheistischen Weltreligionen, ein Werk über christliche Häresien im frühen Christentum, eine Philosophiegeschichte der mittelalterlichen Scholastik, eine gelehrte und begrifflich anstrengende Abhandlung über moderne Glaubensmischformen und anderes mehr. Im Regal nebenan stehen die melancholischen Beschwörungen alter Männer von Hesse über Frisch bis Walser. Das widerspricht zwar der Einsicht des heiligen Augustinus: »Wenn du verstanden hast, dann ist es nicht Gott« oder einer islamischen aus dem 8. Jahrhundert: »Wer erklärt, lügt.« Aber was soll ich machen? Mit gekreuzten Beinen auf der Isomatte sitzen und warten, bis etwas in mir geschieht, von dem ich nicht weiß, wie es aussehen wird?
Auf meinem Nachttisch liegt neuerdings die Bibel. Gelegentlich stöbere ich vor dem Einschlafen in ihr umher und fand neulich bei Hiob folgende Stelle: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Gehet auf wie eine Blume und fällt ab. Fleucht wie ein Schatten und bleibt nicht.« Das ist gewaltig und unbarmherzig in seiner strengen Kürze. Man sollte häufiger die Bibel zur Hand nehmen, überlege ich, bevor sie wieder für Tage stillliegt.
»Glauben heißt: sich selbst ganz und gar auf Gott verlassen«, lese ich an anderer Stelle in meiner Bibliothek. Gerne, allerdings müsste ich vorher an Gott glauben, um mich auf ihn verlassen zu können. Woher aber nehme ich den Glauben? Brauche ich
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