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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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überhaupt eine Vorstellung vom Jenseits? Führt nicht jedes Nachdenken darüber zu lächerlichen Formen der Veranschaulichung?
    Gelegentlich habe ich das Gefühl, durch Bücher in einer mir völlig fremden Sprache zu blättern. Ich verstehe nichts und finde weder Halt noch Zugang. Ich komme mir vor wie jener bedauernswerte Frosch, der vergeblich versucht, aus einem Glas, das für seine Bemühungen zu hoch ist, zu entwischen. Ich würde das Projekt Glaube oder Spiritualität gerne wieder zur Seite legen, aber dazu ist es zu spät. Es hat sich selbstständig gemacht und sich als neuer, unvorhergesehener Begleiter durch mein zukünftiges Leben meinem Zugriff entzogen.

Bewegt euch!
    »Ohne tägliche, gehörige Bewegung
kann man nicht gesund bleiben.«
    ARTHUR SCHOPENHAUER
    Ein gutes Jahrzehnt vor meinem Rentenantritt arbeitete ich als Korrespondent für die ARD in New York. Damals wohnte ich in einem Apartment an der 86. Straße, einen Block vom Central Park entfernt. Neben Chucks, Sushi und Football hatte ich von der amerikanischen Lebensart etwas übernommen, das in der Heimat einst als »Dauerlauf« bekannt gewesen, aber zeitweilig in Vergessenheit geraten war. Erst nachdem es »Jogging« hieß und, von zahlreichen bunten Zeitschriften begleitet, die genau erklärten, wie ein Fuß vor den anderen zu setzen sei, über den Atlantik zurückgekommen war, wurde es bei uns wieder modern. Der tiefe ökonomische Sinn, der sich dahinter verbarg, fiel damals noch keinem auf. Davon wird im Folgenden die Rede sein.
    Fünfmal in der Woche lief ich die zweieinhalb Kilometer langen Runden um das Reservoir, jenen prächtigen See mitten im Central Park, der von der bekanntesten Joggingstrecke der Welt gesäumt wird. Solange Tageslicht herrschte, hatte man Gesellschaft. Mit Einbruch der Dunkelheit leerte sich die Strecke, denn nachts gilt der Park als unwirtlicher und gefährlicher Ort. Anfang der neunziger Jahre lief ich gut austrainiert den New-York-Marathon und erreichte hinter 17 344 schnelleren Läufern in einer Zeit von etwas über vier Stunden das Ziel.
    Zurück im Rheinland, ließ meine Laufbereitschaft verschiedener, schwer beeinflussbarer Umstände wie Bequemlichkeit, Bettschwere und Lustlosigkeit wegen bald nach – was weder meinem Gewicht noch meiner Kondition gutgetan hat.
    Kurz nach meiner Pensionierung flog ich zu einem kurzen Besuch nach New York. Am Morgen des zweiten Tages meines Aufenthalts ging ich in der Frühe zum Reservoir, schaute über die vertraute Szenerie und lief in guter Geschwindigkeit, wie ich fand, los. Der letzte halbe Kilometer kostete zwar Kraft und Atem, aber ich hielt, war ich überzeugt, mein Tempo. Sicher, die Beine waren von Beginn an schwer gewesen, aber das glaubte ich durch Beharrlichkeit auszugleichen. Als ich erschöpft und taumelnd, aber zufrieden die Runde beendet hatte, schaute ich erwartungsvoll auf die Uhr, fest davon überzeugt, die Zeit von damals gehalten zu haben. Doch zu meinem Entsetzen hatte ich mehr als vier Minuten verloren, fast zwei auf jeden Kilometer.
    Das hat mir Beine gemacht, seither treibe ich wieder Sport. Ich bin nicht bewegungsbegabt. Ich war stets ein schlechter Tennisspieler, ein unsicherer Skater, ein mäßiger Fußballer und ein hüftsteifer Skiläufer. Deswegen bedurfte es Ausdauer und Disziplin, denen stets ein Moment der Verzweiflung eigen war, damit ich im hinteren Mittelfeld mithalten konnte. Beide Eigenschaften tun mir heute guten Dienst beim Ziehen an Gewichten, den Stunden auf dem Stairmaster und den unendlich langweiligen Runden im Schwimmbecken.
    Bei meinen Besuchen im Altenheim meiner Mutter, das sich heute Seniorenresidenz nennt, ohne dass sich etwas Wesentliches geändert hätte, fiel mir damals auf, dass sich viele Bewohner nur mühsam, mittels kleiner Ställchen, vorwärtsbewegten. Wie die Schildkröten ihre Panzer, schleppten sie kleine Gehäuse mit sich herum. Diese Gehhilfen schepperten, schleiften und machten einen verkrampften Gang, bei dem Arm- und Rückenmuskulatur die Beine unterstützten, die nicht mehr in der Lage waren, die Last des Körpers allein zu tragen.
    Diese Laufställchen wirkten auf mich wie der Zaun um einen Hühnerhof. Sie begrenzten die Beweglichkeit und das Revier der alten Menschen, die dann leichter zu verwalten waren und nicht mehr frei und selbstbestimmt umherstreifen konnten. Wer unter solchen Umständen alt werden muss, verliert dauerhaft seinen Bewegungsspielraum – das erkannte auch meine Mutter in dem

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