Altern Wie Ein Gentleman
nicht mehr im Jenseits abgestraft, sondern bereits im Diesseits: »Über nichts werden in unseren Tagen mehr Tränen vergossen als über den unvollkommenen Körper«, heißt es in einer der Zeitschriften, die Organe der Diktatur der Körperlichkeit sind. Wir haben damit die Hölle auf Erden eröffnet, machen uns ihr untertan und bestrafen uns unnachsichtig selbst. Dagegen ist der christliche Entwurf von trostreicher Menschenfreundlichkeit, denn er kennt immerhin Sühne und Vergebung.
Jede gesellschaftliche Entwicklung hat ihre Vorboten und Wegbereiter. Ein schwuler Freund, Gene Trustman, mit dem ich vor vielen Jahren einträchtig in einem Coffeeshop auf der 6. Avenue/Ecke 14. Straße saß, erklärte mir eher beiläufig, während wir die bunte New Yorker Menge vorbeiflanieren sahen, dass die Zeiten der »Heten-Dominanz«, wie er sie nannte, vorbei seien.
»Schau dir meine Leute an, hier laufen ja einige herum: perfekte Körper in Trägerhemdchen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg von Eisverkäufern in Brooklyn getragen wurden. Kurze Haare, Ohrringe, zerfranste Jeans und Menjoubärte. Alles schwule Erfindungen, die ihr Heten«, damit meinte er heterosexuelle Zeitgenossen wie mich, »Jahre später getreulich kopiert habt und mir jetzt aus der Hand reißt.« Gene besaß nicht weit entfernt an der Christopher Street ein Geschäft mit einem bunten Kleidungssortiment. »Ohne Heten könnte ich den Laden schließen«, gestand er ein und fuhr unerbittlich fort: »Das Schlimmste aber steht euch noch bevor. Eure Frauen werden unsere Körper entdecken, die durchtrainierte Brust, den flachen Bauch, die schmalen Taillen und unsere muskulösen Ärsche. Sie werden sich eure Figuren anschauen und sehr unzufrieden sein. Wir sehen uns alle in den Fitnessstudios wieder. Ihr werdet deshalb nicht schwul, aber euer Lebensstil wird es sein, wenn er es nicht schon ist.«
Ein Blick zurück aus langer zeitlicher Distanz bezeugt, dass Gene damals bemerkenswerten Weitblick besaß. Die Menschen wehren sich heute mit allen Mitteln gegen die Naturwüchsigkeit ihrer Körper und suchen Techniken des Körpermanagements, um dem Verhängnis der natürlichen Vorgaben zu entkommen, wie die Fortschritte in der Schönheitschirurgie eindrucksvoll bezeugen.
Über alle Zeiten hat man von den Alten Haltung erwartet, eine Mischung aus Selbstbeherrschung, Diskretion und der Bereitschaft, sich gegen die Versuchungen des Selbstmitleids und der Wehklage zu wehren. Darüber hinaus aber stand es jedem frei, sich für einen Lebensstil im Alter zu entscheiden. Die Bandbreite reichte von ausschweifender Völlerei bei geringster körperlicher Belastung bis hin zu einem asketischen Lebensstil, verbunden mit intensiven sportlichen Aktivitäten. Dazwischen lagen unzählige Mischformen. Jeder meinte zwar für seine Wahl gute Argumente zu haben, tatsächlich entsprach deren Vielfalt dem Reichtum des menschlichen Lebens und bedurfte keiner eigenen Begründung. Wer gerne gut und reichlich aß, Bewegung scheute, Bequemlichkeit liebte und keine Ansprüche mehr an sein Äußeres stellte, hatte ebenso recht wie sein asketischer Nachbar, der in der Früh lief, sein Gewicht hielt, sich gerne im Spiegel betrachtete und Gemüse einem Braten in dicker Soße vorzog. Es gab bislang kein Gebot, gesund zu sein. Im Gegenteil: Diejenigen Wirtschaftszweige, die gesundheitsschädliche Produkte herstellen und vertreiben, haben jede Wirtschaftskrise und noch mehr gut gemeinte Gesetze bestens überstanden.
Die beschriebene Wahlfreiheit war freilich an soziale, wirtschaftliche und kulturelle Voraussetzungen gebunden, die über die Zeit so selbstverständlich geworden waren, dass niemand mehr sie in sein Kalkül einbezog. Dazu gehörten eine hinreichende Geburtenrate, als wirtschaftliche Voraussetzung, um die Alten zu versorgen, intakte Familien und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Jung und Alt, das grafisch in der Figur der Alterspyramide zum Ausdruck kommt.
Meine Generation erfüllt keine dieser Voraussetzungen mehr. Unsere Geburtenrate ist zu niedrig, das traditionelle Verwandtschaftsgefüge ist ausgedünnt und die Familie durch hohe Scheidungsraten belastet. Hinzu kommt eine ständig steigende Lebenserwartung, die das Verhältnis von Jungen zu Alten zusätzlich verschiebt.
Hatte die Medizin einst das Leben von Neugeborenen und Kindern gerettet, so rettet sie heute das Leben von Menschen über fünfundsechzig. Die Hälfte der Jahrgänge ab 2007 in Deutschland darf damit rechnen,
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