Altern Wie Ein Gentleman
hundert Jahre alt zu werden. Die Anzahl der Hochbetagten wird um siebzig Prozent steigen, obgleich die Gesamtbevölkerung abnimmt. Die vertraute Alterspyramide wird dann wie eine Eiche aussehen, durch die ein Sturm gefahren ist, und keinen sonderlich belastbaren Eindruck mehr machen.
Das bleibt nicht ohne Folgen für die freie Wahl des Alterslebensstils. Wir werden uns eindeutig und ohne nennenswerte Ausnahmen für eine der asketisch-sportlichen Varianten entscheiden müssen, denn der aktive Alte kommt die Gemeinschaft billiger als sein bequemer Altersgenosse. Die Gesellschaft hat meiner Generation gegenüber das Recht, auf einem gesunden, die eigenen Ressourcen vernünftig einsetzenden Lebensstil jedes Einzelnen zu bestehen. Andernfalls werden die Kosten für ärztliche Versorgung, Rehabilitation, Pflege und Betreuung aus dem Ruder laufen und schließlich unbezahlbar sein.
Das American College of Sports Medicine in Indianapolis hat Richtwerte für die körperliche Fitness von Frauen und Männern jenseits der sechzig erarbeitet. Sie wirken zwar wie ein grobes Raster, aber die Daten geben zuverlässig erste Aufschlüsse, wie es um den eigenen Körper bestellt ist.
Für die Distanz von dreitausend Metern gelten folgende Zeiten für die Verfassung von Herz und Kreislauf: Sehr gut ist, wer unter 19 Minuten (Männer) und 21,45 Minuten (Frauen) bleibt. Gut ist, wer um 20,15 (Männer) und 22,15 Minuten (Frauen) läuft. Mäßig sind 21 (Männer) bzw. 23,15 Minuten (Frauen).
Um die Muskelkraft zu bestimmen, wurden Liegestütze herangezogen. Sehr gut sind 20 Liegestütze (bei Männern) und 13 (bei Frauen). Gut : 12–18 (Männer), 6–12 (Frauen). Mäßig : weniger als 10 (Männer), weniger als 5 (Frauen).
Für Kniebeugen hat das College folgende Werte ermittelt: Sehr gut : 24 oder mehr (Männer), 12 oder mehr (Frauen). Gut : 19–22 (Männer), 8–11 (Frauen). Mäßig : weniger als 19 (Männer), weniger als 6 (Frauen).
Meine Generation, deren großes Thema die Befreiung war, sieht sich durch solcherlei Vorgaben überraschend um einen wesentlichen Teil der Altersernte gebracht: die freie Wahl des Lebensstils. Wir reagieren jedoch in der Regel äußerst empfindlich auf Vorgaben und Vorschriften und sind eher geneigt, diese zu übertreten, als uns zu fügen. Das Gebot nachhaltiger Körperlichkeit wird deswegen nur durch eine geschickte Mischung aus Zwang, Überredung und Medienkampagnen durchzusetzen sein. Auf Letztere sprechen Leute meines Alters besonders gutan, denn schließlich sind sie von uns ehedem erfunden und entwickelt worden. Ein Blick auf unsere Medien bezeugt: Der Feldzug hat bereits begonnen. Auch soziale Systeme verstehen sich zu wehren, selbst wenn ihnen kein Bewusstsein eigen sein kann.
Die gute Sache wird von unerwarteten Verbündeten befördert: der Eitelkeit, die meiner Generation auch im Alter noch eine vertraute Lebensbegleiterin geblieben ist, und der Hoffnung auf Formen intimer Geselligkeit, an die unsere Vorfahren keinen Gedanken mehr verschwendet hätten, es sei denn als »traurige Erinnerung an ein Glück, das es nicht mehr gibt«. Eitelkeit und die Reste der Libido sind das »letzte Kleid, das der Mensch auszieht«, wie Ernst Bloch anmerkt, und dienen der Vernunft, mit den Mitteln der Unvernunft gewitzt ihre Zwecke zu verfolgen.
Keiner der männlichen Grauköpfe in meinem Fitnessstudio, mit denen ich über die Beweggründe der schweißtreibenden Geschäftigkeit rede, hat sich Gedanken über eine persönliche Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft gemacht. Sie sprechen von »Gesundheit«, »Beweglichkeit« und »Wohlbefinden« und nebenbei und ein wenig verschämt von den Vorteilen, die ein gut erhaltener Körper bei nächtlichen Ausschweifungen haben würde, von denen sie alle noch träumen. Sie sind damit aber, ohne es zu ahnen, bereits Teil der neuen Verantwortungskultur.
Auch bei den Frauen steht das Wohlbefinden an erster Stelle. Auch bei ihnen verbirgt sich dahinter häufig eine zweite Motivlage. Aber sie denken nicht an späte Liebschaften, sondern bereiten sich auf vorhersehbare Pflichten im engeren Familienkreis vor: »Mein Mann ist älter als ich und schon etwas gebrechlich. Ich werde meine Knochen in Zukunft brauchen müssen, um ihn über die Runden zu bringen«, meint eine Sportskameradin.
»Meiner ist noch ganz gut dabei«, vertraut mir eine andere an, »er kümmert sich um unseren Garten. Ich beobachte ihn seit Jahren aus dem Küchenfenster, wenn er da draußen beschäftigt
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