Altern Wie Ein Gentleman
vielfältigen Umständen möglich ist.
Seit Jahren bemüht man sich, dem Geheimnis der zähen Alten in diesen Regionen auf die Spur zu kommen, um daraus Strategien für den Rest der Welt zu erarbeiten. Neben den üblichen Ratschlägen – auf das Gewicht achten, selten rotes Fleisch essen, abends zwei Gläser Rotwein trinken, den Tagen einen Sinn geben, Freundschaften pflegen und Stress vermeiden –, steht an erster Stelle ein intensives Programm zur Körperertüchtigung. Demnach soll man fünfmal die Woche für mindestens sechzig Minuten Beweglichkeit, Ausdauer und Muskelmasse trainieren. Zusätzlich wird empfohlen, mindestens jeden dritten Tag einen Yogakurs zu besuchen.
Einer Zusammenfassung der unzähligen Studien zufolge gilt als Faustregel »Drei plus/dreißig plus«. Soll heißen: Um nachweisbare Veränderungen am Herz-Kreislauf-System und dem Bewegungsapparat des Körpers zu erzielen, muss mindestens dreimal wöchentlich mindestens dreißig Minuten lang trainiert werden. Empfohlen werden aber, wie es die Erkenntnisse aus den blauen Zonen nahelegen, wöchentlich fünf ausgiebige Trainingseinheiten. Wer die Funktionsfähigkeit seines Körpers, soweit er nicht durch Krankheiten außer Gefecht gesetzt wurde, erhalten will, muss demnach den Sport zu einer täglichen Beschäftigung von beträchtlicher Dauer und Intensität machen. Gelegentliche Spaziergänge oder gemütliche Wassergymnastik im nahe gelegenen Hallenbad beruhigen zwar, bleiben jedoch ziemlich wirkungslos.
Ohne regelmäßiges Training geht bis Mitte sechzig etwa ein Drittel der Muskeln verloren. Der Bewegungsapparat und der Zustand seiner Einzelteile sind jedoch die wichtigsten Voraussetzungen für Mobilität und Beweglichkeit. Sie entscheiden darüber, ob ein alter Mensch noch selbstständig und selbstbestimmt leben kann. Ihr Verlust zieht unsicheren Gang, verringerte Mobilität bis zum völligen Stillstand und in der Folge Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach sich. Wer seine Muskelmasse vergeudet hat, lebt ständig unter dem Damoklesschwert des Sturzes. Geschwächte Beinmuskulatur führt zu einem flachen Gang, für den Unebenheiten zu einer ernsten Gefahr werden. Bei Männern nimmt die Muskelkraft an den oberen und unteren Extremitäten gleichmäßig ab. Bei Frauen ist der Verlust in den Beinen größer als der in den Armen, weswegen sie öfter stürzen als Männer. Die häufigste Ursache für Kliniktransporte im »Rosenpark« war der Sturz, und die Konkurrenz an Gebrechen war nicht eben gering. Sie fielen, kamen als alte Menschen ins Krankenhaus und kehrten Wochen später steinalt in das Heim zurück.
In »Steps to Heaven« finden Neuankömmlinge folgerichtig auf ihrem Zimmer einen detaillierten Plan der näheren Umgebung vor, auf dem verschiedene Laufstrecken eingezeichnet sind.
»Wir tun das nicht nur aus Spaß oder wegen der Figur«, erklärte mir Joan, die beim heiminternen Fernsehsender mitarbeitete, als sie verschwitzt mit ihrem Partner, der kaum mehr Luft bekam, von einem Fünfmeilenlauf zurückkehrte. »Wir sparen Geld, indem wir so lange wie möglich gesund bleiben. Wir zwingen niemanden, aber wer sich vernachlässigt, den erinnern wir schon an seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Wir sind alt, das wissen wir. Der tägliche Sport macht uns nicht jünger, aber billiger. Die Pflegezeiten werden kürzer. Gesunde können sich länger nützlich machen.« Die ganze Zeit war sie mit kleinen Schritten auf der Stelle in Bewegung geblieben. »Jetzt aber ab unter die Dusche!« Sie stieß ihren Partner an, und die beiden verschwanden in leichtem Trab hinter einer Hecke.
Erstaunt schaute ich ihnen nach. An einem Ort, an dem ich sie sicherlich nicht gesucht hätte, hatte ich soeben ein Erbstück antiker Moral als Teil des täglichen Lebens entdeckt: »Seid mäßig und bewegt euch!«
»Muskeln kann man trainieren, solange man atmet«, erklärte mir später Kevin, ein Mediziner im Ruhestand aus Brownsville/Texas, der als Heimbewohner unentgeltlich und etwas außerhalb der Legalität für die zahlreichen kleinen Beschwerden zuständig war, die das Alter mit sich bringt. »Das erwarten wir von denjenigen, die zu uns wollen. Wir sind nicht an durchtrainierten, kerngesunden Neuankömmlingen interessiert, sondern an solchen, die bereit sind, in Zukunft etwas für sich und damit für uns alle zu tun, unabhängig davon, wie sie vorher gelebt haben. Das ist ein wichtiges Thema, bevor wir entscheiden, ob ein Bewerber aufgenommen wird. Jeder
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