Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
loszufliegen, als etwas über Tobias’ Kopf hinwegsurrte. Der Pfeil traf den Vogel mitten im Leib und warf ihn nach hinten. Er segelte durch die Luft und landete im Gras.
Tobias fuhr herum.
Rudy, ein besonders undisziplinierter Schüler, hielt seinen Bogen noch vor sich. Er sah den wütenden Ausdruck auf Tobias’ Gesicht und senkte den Blick.
»Ey … der Vogel war doch nicht normal!«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Den konnten wir doch nicht einfach wegfliegen lassen. Außerdem war das ein super Schuss, oder?«
Einer seiner Kameraden verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, um ihn zum Schweigen zu bringen und ihm zu zeigen, dass er wirklich ein Idiot war.
Tobias lief zu dem kleinen schwarzen Körper, der von einer Seite zur anderen von dem Pfeil durchbohrt war, und streckte die Hände aus, um ihn aufzuheben und sich zu vergewissern, dass er nicht litt, sondern tatsächlich tot war.
Da erstarrte er.
Das glänzende Gefieder war mit einer zähflüssigen Masse verklebt.
Ist das etwa Öl? Wie konnte der Vogel in so einem Zustand fliegen?
Die Augen des Vogels waren grau, wie von einem Schleier überzogen.
»Und?«, fragte die atemlose Stimme eines Mädchens hinter ihm.
»Er ist tot.«
»Was du nicht sagst! Kein Wunder!«
»Man könnte sogar meinen, dass er schon seit einer ganzen Weile tot ist«, fügte Tobias beunruhigt hinzu.
Er packte den Pfeil, hob den Vogel damit hoch und musterte ihn.
»Aber der ist ja voller Öl!«, rief ein Junge, der ebenfalls herbeigelaufen war.
Mit der Fingerspitze berührte Tobias einen Flügel. Eine pechschwarze Schicht blieb an seiner Haut haften.
»Das ist total klebrig.«
Tobias hob sachte den kleinen Kopf des Vogels an und zuckte zurück.
»Was ist los?«, fragte Alice ängstlich.
»Er ist ganz kalt!«
»Weil er in großer Höhe geflogen ist?«
»Nein, es ist … als wäre er schon seit mehreren Tagen tot!«
»Das ist unmöglich, gerade ist er doch noch geflogen, wir haben es alle gesehen. Er hat sogar gekrächzt!«
Tobias berührte den Körper erneut.
Kein Zweifel.
»Dieser Vogel ist seit langem tot«, sagte er leise und dachte sofort an die Art und Weise, wie der Rabe sie beobachtet hatte.
Hatte er sie wirklich gezählt?
War das möglich?
Genauso wenig wie ein totes Tier fliegen konnte …
Der Rabe hatte über ihnen gekreist und sich dann auf dem Baum niedergelassen, um sie mit einer für einen Vogel anormalen Aufmerksamkeit auszuspionieren.
Als führte er etwas im Schilde.
7. Das Geständnis
E den leuchtete in der Nacht.
Die Kerzen in den Lampions und die gewohnten Straßenlaternen ließen die drei Hauptstraßen in allen Regenbogenfarben schillern. An jeder Ecke saß eine Gruppe Pans und musizierte, Hits aus der alten Zeit, neu komponierte Lieder, und die Besten wagten sogar freie Improvisationen.
Matt lief mitten durch die fröhliche Menge. Sämtliche Pans, denen er begegnete, schienen vor guter Laune nur so zu sprühen. Er wusste, wie wichtig dieser Moment für ihre Gemeinschaft war. Die Jüngsten von vier oder fünf Jahren mischten sich unter die Ältesten, die auf die achtzehn zugingen oder manchmal sogar schon darüber waren. Für alle bot das Fest die Möglichkeit, ihre Ängste und ihr Leid zu vergessen, manchmal auch ihre Schuldgefühle. Es war das erste Mal nach dem Sturm, dass sie den Moment genossen und unbeschwert lachten, wie es sich für ihr Alter gehörte. Nach dem Krieg gegen die Zyniks hatte niemandem der Sinn danach gestanden, den Frieden zu feiern, zu viele waren gestorben, zu viele verletzt worden, zu viel Blut war auf beiden Seiten vergossen worden.
Den ganzen Nachmittag lang war Matt damit beschäftigt gewesen, seinen Aufbruch vorzubereiten. Er hatte seine Taschen sorgfältig gepackt, um ja nichts zu vergessen. Jetzt fehlten nur noch die Vorräte, dann würde er alles auf Pluschs Rücken festschnallen. Er hatte vor, nicht spät zu Bett zu gehen und früh am Morgen aufzubrechen, wenn die meisten Pans noch schliefen.
Er mochte Abschiede nicht.
Tobias hatte seine Tasche ebenfalls gepackt. Auf Matt wirkte er sehr bedrückt, vor allem wegen der Geschichte mit dem toten Vogel. Das Ganze hörte sich total absurd an. Trotzdem bestand Tobias felsenfest darauf, dass der Vogel sich bewegt hatte. Er war geflogen, obwohl sein Leib mit einer Art Ölfilm bedeckt war. Und vor allem: Er war seit langem tot gewesen!
Die Neue Welt steckte offenkundig voller Überraschungen. Obgleich Matt zugeben musste, dass sie ihm nicht
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