Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
Wir werden eine Lösung finden. Vertrau mir.«
»Also wirst du uns nicht im Stich lassen?«
»Ich wollte euch nie im Stich lassen. Ich wollte fort, um mich zu schützen.«
»Ich hatte diesen Traum, Matt, er war so echt! So real … Du darfst nicht in den Norden ziehen, sonst … sonst stirbst du!«
Ambres Stimme bebte vor Angst. Sie konnte kaum noch atmen.
»Keine Sorge«, antwortete er, »mein Plan war es, gen Westen zu ziehen, nicht gen Norden. Außerdem ist jetzt eh alles anders.«
Ambre blickte ihn durchdringend an. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
8. Gewissensfragen
T obias konnte nicht mehr.
Er hatte Seitenstiche vor lauter Lachen. Floyd, der Weitwanderer mit dem kurzgeschorenen Haar, erzählte einen Witz nach dem anderen, und jeder neue war noch besser als der vorherige.
Tobias brauchte eine Pause.
Als Floyd damit begann, einige ihrer Freunde zu imitieren, fiel Tobias jener lustige Abend auf dem Schiff ein, das sie vor vier Monaten nach Wyrd’Lon-Deis getragen hatte. Er dachte an Horace, der sie damals mit seinen Grimassen und seiner Verformungsalteration unterhalten hatte. An Horace, der sich wenige Wochen später für sie geopfert hatte.
Jetzt brauchte Tobias wirklich eine Pause.
Er schlenderte zum Flussufer hinab. Die Musik, der Gesang und das Gelächter wurden leiser, waren aber noch deutlich zu hören. Auch am Anleger, wo die Fischerboote festgemacht waren, hingen bunte Lampions.
In diesem Moment sah er, dass jemand in einem der flachen Boote saß.
Lange Haare und breiter Pony.
Tania.
»Alles in Ordnung?«, fragte Tobias und trat zu ihr.
»Es ist sehr laut dort drüben, ich brauchte einfach ein wenig Ruhe.«
»Versteh ich nur zu gut, mir geht es genauso. Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er und deutete auf die zweite hölzerne Ruderbank.
»Natürlich.«
Tobias stieg zu ihr hinab und gab sich die größte Mühe, nicht über Bord zu fallen. Dann ließ er sich gegenüber dem Mädchen nieder.
Tania musterte ihn mit seltsam sanftem Blick. Tobias fiel auf, dass dieser an der Narbe hängenblieb, die einen Teil seines Gesichts entstellte.
»Findest du sie hässlich?«, fragte er so neutral wie möglich.
»Nein.«
»Am Anfang war ich irgendwie stolz darauf …«
»Und jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Erinnert sie dich an den Krieg? An das, was wir getan haben? An die Männer, die wir getötet haben?«
Tobias zuckte die Achseln und blickte gedankenverloren in die Nacht.
»Ich habe auch manchmal Schuldgefühle«, fuhr Tania fort. »Ich bekomme die Gesichter derer nicht aus dem Kopf, auf die ich Pfeile abgeschossen habe. Ich erinnere mich an jeden einzelnen. An die Geschwindigkeit, mit der die Spitze sich in ihren Leib bohrte, bis hin zu ihrem letzten Gesichtsausdruck, meist verblüfft oder verängstigt.«
»Wir wollten diesen Krieg ja nicht«, murmelte Tobias. »Es ging um unser Überleben und um unsere Freiheit.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem haben wir Menschen getötet, und damit müssen wir jetzt leben. Unsere Freiheit hat den Beigeschmack von Blut. Und ich bin nicht die Einzige, die so empfindet, den meisten Pans geht es so.«
Tobias nickte.
»Ich versuche, nicht allzu oft daran zu denken oder darüber zu reden.«
»Das ist falsch. Wir dürfen das nicht jeder mit sich selbst ausmachen. Geheimnisse, die man unterdrückt, verrotten und werden zu Krebsgeschwüren. Sie bestimmen, wer du bist, und eines Tages brechen sie hervor. Deshalb müssen wir darüber nachdenken und uns austauschen, so schwer das auch ist. Sonst tragen wir die Schuld ewig mit uns herum.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
Tania beugte sich vor und legte ihren Zeigefinger auf die Schwellung, die direkt am Haaransatz des Jungen begann. Dann fuhr sie sanft die Narbe entlang.
»Sie ist nicht hässlich«, sagte sie leise. »Sie ist Ausdruck deines Innersten. Du musst nur lernen, sie zu akzeptieren, dann wird sie nie wieder hässlich sein, weder für dich noch für andere.«
Tobias lächelte.
»Du verstehst es wirklich, mit Menschen umzugehen.«
Sie lachte ebenfalls.
»Ich kann nicht anders, das muss mein Mutterinstinkt sein.«
Der Junge starrte plötzlich nach Norden in den Himmel. Er wirkte besorgt.
»Tobias? Was ist los?«
»Siehst du die Vögel da drüben?«, fragte er und erhob sich im Boot. »Es sind dieselben wie der von heute Morgen.«
»Woher weißt du das? Sie sind weit weg, und es ist dunkel! Ich sehe nur einen Haufen
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