Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
blieben Zyniks und brachten den Kindern nur Misstrauen oder gar Hass entgegen.
Ein unrasierter alter Mann mit wirren weißen Haaren empfing die beiden Schwestern. Er roch nach Schweiß und zwinkerte unablässig.
»Was kann ich für euch tun?«, fragte er.
»Wir haben vor, in den Wohnräumen des Burgfrieds Renovierungsarbeiten durchzuführen, um die Ableitung des Abwassers zu verbessern«, log Zelie dreist. »Können wir den Grundriss einsehen?«
»Der müsste in dem Regal ganz hinten liegen, dort ist es etwas unordentlich, aber ihr dürftet alles finden, was ihr braucht!«
Maylis nahm eine der Glaslaternen und stellte sie auf einen kleinen Tisch ab. Dann holten die Schwestern mehrere Dutzend Pergamentrollen aus dem Regal und breiteten sie auf dem Tisch aus. Sie sahen sich die Zeichnungen von jedem Stockwerk genau an und studierten die Raumaufteilung und die Außenansicht. Für eine Festung, die hastig und in sehr kurzer Zeit erbaut worden war, hatten die Großen ihre Sache gut gemacht. Zelie dachte lieber nicht an all jene, die dabei ihr Leben gelassen hatten.
Konnte ein Gebäude, dessen Errichtung so viele Menschenleben gekostet hatte, im Nachhinein dem Frieden dienen?
»Ich finde die Pläne der unteren Stockwerke nicht«, klagte Maylis.
»Ich auch nicht.«
Zelie stand auf, um Gregory zu holen.
Der Alte döste in einer Ecke auf einem Stuhl, die Füße auf einem Schemel voller Dokumente.
»Entschuldigen Sie!« Er zuckte zusammen. »Sind Sie sicher, dass alle Pläne des Burgfrieds hier sind? In diesem Regal?«
»Ganz sicher.«
»Einige Grundrisse fehlen, sie müssen irgendwo anders sein …«
»Nein, ich habe nach … nach dem Krieg Inventur gemacht. Ich bin sicher, dass alle Pläne da sind. Die Papiere sind ein wenig durcheinander, aber nach Kategorien geordnet!«
»Dann fehlen die Grundrisse der beiden untersten Stockwerke des Burgfrieds.«
Der alte Gregory erhob sich grummelnd und schlurfte zu ihrem Tisch.
»Lasst mal sehen!«
Er ging jede Rolle durch, ließ sie achtlos zu Boden fallen und schüttelte schließlich den Kopf.
»Hm, stimmt, da fehlen welche.«
»Die Gemächer in den beiden unteren Stockwerken, zum Beispiel die … des Unschuldstrinkers, oder?«, fragte Maylis unschuldig.
»Ja, aber nicht nur.«
»Ich habe nicht bemerkt, dass noch ein Stockwerk fehlt«, meinte Zelie. »Sonst ist alles da.«
»Nein, nicht die Kloake.«
»Die was?«, fragte Maylis.
»Die Kloake. Es ist ein Bereich, den Bill … der Unschuldstrinker, wie ihr ihn nennt, bei seiner Ankunft zumauern ließ.«
»Und was genau ist die Kloake?«, erkundigte sich Zelie.
»Ein weitverzweigtes Netz aus Gängen und Sälen unter der Festung. Ursprünglich befanden sich dort die Folterkammern und Verliese.«
»Ich verstehe, warum er sie zumauern ließ«, erklärte Maylis angewidert.
Zelie beugte sich über den Tisch zum alten Gregory hinüber. Misstrauisch fragte sie:
»Und diese … Kloake befindet sich unter dem Burgfried?«
»Ja, unter Bills Gemächern.«
Zelie und Maylis sahen sich an. In ihrem Blick mischten sich Triumph und Schrecken. Der Unschuldstrinker verbarg viel mehr vor ihnen, als sie gedacht hatten.
22. Etwas Göttliches
S eit zwei Tagen marschierten sie strammen Schrittes voran.
Matt hatte die Pausen und sogar die Nächte verkürzt, um möglichst rasch von Canaan wegzukommen. Außerdem nahmen sie nur noch weniger benutzte Nebenwege, die manchmal so zugewachsen waren, dass sie vollständig unter Gräsern und Ranken verschwanden. Hin und wieder verließen sie den Weg und liefen quer durchs Unterholz, um ihre Spuren zu verwischen.
Doch der Foltergeist schien ihnen nicht zu folgen.
War es möglich, dass die Einwohner von Canaan ihn besiegt hatten? Leider war das recht unwahrscheinlich: In Eden hatten es Hunderte von Pans nur knapp geschafft, eine dieser Kreaturen in die Flucht zu schlagen, wie sollte dann eine Handvoll ungeübter Jugendlicher mit einem so mächtigen Gegner fertig werden?
Deshalb ging Matt davon aus, dass sie den Foltergeist abgehängt hatten. Das Wesen mochte im Kampf nahezu unbesiegbar sein, schien aber über keinerlei übernatürliches Gespür zu verfügen, und ihre Umwege hatten es wohl verwirrt.
So kreisten seine Gedanken nun vor allem um Ambres Verhalten.
Tagsüber war sie ihm gegenüber zärtlich und anschmiegsam, nahm seine Hand, küsste ihn ab und zu, aber kaum brach die Nacht herein, ging sie auf Abstand und legte sich zwischen Tania und Amy schlafen. Was im Flur der
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