Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
sein!
Sie ließ das Seil locker und sank ein paar weitere Meter hinab.
Was, wenn das Seil zu kurz ist? Ich habe zwar das längste genommen, das ich gefunden habe, aber reicht das auch?
Maylis stellte sich vor, wie sie im Nichts hing und sich über dreißig Meter an einem glatten Seil hochhangeln musste.
Unmöglich. Wenn das Seil zu kurz ist, sind wir verloren! Wir müssten abwarten, bis irgendwer die Plattform herablässt, und dann würde man uns entdecken …
Sie ließ sich einen weiteren Meter hinab, dann noch einen, und noch einen. Ihre Füße trafen auf den Boden, und sie wäre um ein Haar gestürzt, wenn Zelie sie nicht aufgefangen hätte.
»Mensch, hab ich Schiss gehabt«, gestand sie.
»Ich auch«, meinte Zelie. »Ich hab mich einfach an einem Stück herabgelassen, weil ich Angst hatte, in der Mitte hängenzubleiben!«
Laternen und Fackeln brannten in der riesigen Halle, aber der Raum war zu groß, um vollständig ausgeleuchtet zu werden. Die beiden Schwestern verbargen sich in den Schatten und näherten sich den Türen, die ihnen interessant erschienen.
Sie mussten in Erfahrung bringen, was der Unschuldstrinker im Schilde führte.
Schreie von Kindern drangen durch das Holz. Sie gingen ihnen durch Mark und Bein.
Bei jedem dumpfen Hammerschlag, jedem Lichtblitz unter den Türen, jedem entfernten Grollen zuckten sie zusammen.
Auch wenn sie das kalte Entsetzen packte, sie durften nicht aufgeben. Der Unschuldstrinker, so grausam er auch sein mochte, quälte die Pans nicht nur zum Spaß. Er wollte ihnen ein Geheimnis entlocken, sie zum Sprechen bringen. Aber welches Geheimnis?
Vor einer der Holztüren mit Eisenbeschlägen hielt Zelie ihre Schwester zurück.
»Es wäre zu riskant, sie einfach aufzureißen, um nachzusehen, was dahinter ist. Warte hier auf mich, ich gehe rein.«
Zelie schlüpfte durch das Holz.
Jetzt, wo Maylis allein in der riesigen unterirdischen Halle war, jagten ihr die Schreie noch viel mehr Angst ein.
Der Türknauf drehte sich langsam, und Zelie ließ sie herein.
Sie standen auf einer Empore über einem Saal mit hoher Decke, in dem es nach Schweiß, Laternenöl und Urin stank. Das Feuer in einem Kamin verbreitete ein rötliches Licht.
Unten verpasste ein Zynik gerade einem etwa zehnjährigen Jungen Ohrfeigen. Der Pan lag nackt auf einem Tisch und war an Armen und Beinen gefesselt. Lederne Gurte, die mit Ketten an dem Tisch befestigt waren, umschlossen seine Handgelenke und Knöchel.
»Los, du kleiner Scheißer, wach auf!«
Eine kleinere Kette verlief von einem Haken über dem Tisch zu dem Bauch des Jungen. Sie endete in einem Ring, der in seinem rötlich geschwollenen Nabel steckte.
Eine Tür fiel ins Schloss, und ein zaundürrer Mann mit dünnem schwarzen Schnurrbart und struppigen Haarbüscheln auf dem Kopf kam herein. Offenbar gab es nebenan einen ähnlichen Saal.
»Nun! Wie geht es dem Burschen? Ist er willig?«
»Er hat das Bewusstsein verloren, Doktor Gélénem«, antwortete der Wächter.
»Ich kenne eine unfehlbare Methode, ihn aufzuwecken.«
Gélénem packte die Nabelkette und riss kräftig daran.
Das Kind brüllte auf. In diesem Schrei lag so viel Wut und Schmerz, dass Zelie und Maylis die Tränen kamen.
»Soooooo!«, rief Gélénem und lachte höhnisch.
»Ich dachte, das sei gefährlich? Haben Sie mir nicht selbst verboten, das zu tun?«, fragte der Wächter überrascht.
»Bill kommt heute zurück«, erklärte der andere. »Wir brauchen Ergebnisse. Wir beschleunigen die Experimente. Welche Alteration hat dieser hier?«
»Er erzeugt Blitze«, meinte der Wächter. »Vorhin hat er gleich drei auf einmal geschleudert.«
»Drei? Wunderbar.«
Maylis drückte sich an ihre Schwester.
»Ich dachte, der Nabelring raubt den Pans ihre Alteration«, flüsterte sie.
»Wenn man ihn herauszieht!«, gab Zelie zurück. »Offenbar funktioniert sie noch, solange er im Körper steckt.«
»Ich hasse diesen Ort.«
Gélénem nahm ein Heft von einem Tischchen und las sich die neuesten Notizen durch.
»Reagiert er auf die Reize?«, fragte er.
»Immer besser.«
»Sehr gut, sehr gut … Ich mag diesen Jungen! Er lässt sich besser erziehen als ein Hund! Noch ein paar Tage, dann ist er handzahm!«
Gélénem bohrte seinen Zeigefinger in den Nabelring und beugte sich über den Jungen.
»Zeig mir, was du kannst, Sklave! Erzeuge einen Blitz! Los, gehorche.«
Der Wächter sprang hastig zur Seite, weg von den Händen des Jungen.
Als sich nichts tat, packte der Doktor
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