Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
hin. Sie war leichenblass. Matt machte sich ungeheure Vorwürfe und schwor sich, dass er nie mehr zulassen würde, dass sie so sehr an ihre Grenzen ging. Eines Tages würde sie es zu weit treiben und sich umbringen, und dieser Gedanke war unerträglich.
Er merkte, dass Amy ihn mied, und ihm wurde klar, dass sie mehr als nur Freundschaft für ihn empfand. Aber gegen unerwiderte Liebe gab es nur ein Heilmittel, und das war die Zeit, deshalb respektierte er ihren Rückzug und versuchte nicht, mit ihr zu reden.
Am Morgen des sechsten Tages riss der Nebel plötzlich auf. Sie brachen aus der grauen Wolke hervor und wurden von grellem Sonnenlicht geblendet.
Ambre war an diesem Tag zum ersten Mal wieder auf den Beinen und sprühte vor Energie und Tatendrang. Sie wollte überall mit anpacken, küsste Matt jedes Mal, wenn sie sich begegneten, und knuffte Tobias freundschaftlich in die Seite.
Die plötzliche Weite der Landschaft machte die Pans euphorisch. Es war, als würden sie nach langer Zeit ihr Augenlicht wiederfinden. Sie segelten in der Mitte eines beeindruckenden Stroms, der mehr als einen Kilometer breit war und von endlosen Fichtenwäldern gesäumt wurde.
Eine dicke Schneedecke bedeckte Bäume und Ufer.
Schnell stellten sie fest, dass in den Wäldern um sie herum reges Leben herrschte: Hirsche und Rehe tranken am Ufer, Vogelschwärme flogen über das Wasser hinweg, Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast. Nur im Fluss schien es keine Fische zu geben. Aber das war auch kein Wunder, schließlich durchquerte er den düsteren Nebel, bevor er wieder ins Licht mündete.
Sie legten zum Mittagessen an, und die sechs Hunde verschwanden im Unterholz. Nach einer guten Stunde kehrten die Tiere zurück, das Fell voller Halme und Blätter. Bevor die Pans weitersegelten, mussten sie ihre Hunde ausgiebig striegeln.
Matt und Floyd wollten so schnell wie möglich weg von der dunkelgrauen Wand, die sich hinter ihnen bis in den Himmel türmte.
Am Nachmittag zogen von Nordwesten dicke Wolken heran, und ein Sturzregen ergoss sich über die Gegend, bald gefolgt von starken Windböen, Blitz und Donner.
Die Pans mussten sich entscheiden: Entweder fuhren sie trotz des schlechten Wetters weiter, oder sie steuerten das Ufer an und riskierten, mit dem Segelboot auf Grund zu laufen.
Das Gewitter wurde immer heftiger, und plötzlich zuckten rings um sie herum Blitze vom Himmel. Die Blitze waren zu lang und zu seltsam, um ein natürliches Phänomen zu sein. Sie ähnelten Tentakeln, die nach allem griffen, was sich in ihrer Reichweite befand.
Die Blitze aus der Nebelwand.
»Ein entropischer Sturm«, murmelte Floyd.
»Was bedeutet entropisch?«, fragte Tobias, um nicht an seine Angst denken zu müssen.
»Eine Entropie ist die Zunahme von Chaos, eine wachsende Ungewissheit oder Unwägbarkeit.«
»Huihuihui! Ganz schön kompliziert.«
»Der graue Nebel ist eine Entropie. Chaos, das noch mehr Chaos erzeugt. Und wir sind mitten in einem entropischen Sturm.«
Die Blitze schlugen in den Wald ein, bohrten ihre Krallen in die Bäume und entwurzelten Dutzende von Stämmen. Sie zerfetzten sie in Stücke und schleuderten sie durch die Luft.
Die ganze Luft roch jetzt nach Chlorophyll.
Pflanzenreste mischten sich in den Regen.
Inmitten der düsteren Gewitterwolken zeichnete sich vor ihnen plötzlich ein gewaltiger dunkler Schleier ab.
»Die Nebelwand!«, schrie Amy. »Wir fahren wieder darauf zu!«
»Wir müssen sofort runter vom Schiff!«, brüllte Chen.
Matt schüttelte den Kopf.
»Nein, die Blitze wüten am Nordufer, im Wald könnten wir erschlagen werden. Außerdem kommt der Nebel auch von Norden, seht nur. Wir waren in einer Art nebelfreien Blase, aber jetzt zieht sie sich zu.«
»Wir können nicht ewig auf dem Boot bleiben«, gab Tania zu bedenken. »Unsere Vorräte gehen zur Neige. Bald müssen wir nach Beeren und Pilzen suchen und auf die Jagd gehen.«
»Aber am Nordufer ist alles voller Blitze.«
»Bleibt das Südufer.«
»Und wie sollen wir dann den Fluss überqueren? Wir wären von unserem Ziel abgeschnitten!«
Amy starrte Matt an.
»Muss man nicht manchmal auch zurückstecken?«, fragte sie mit einem seltsam eindringlichen Blick.
»Ich werfe auf keinen Fall das Handtuch«, rief er und wich ihrem Blick aus. »Floyd, halte den Kurs. Wir fahren wieder in den … wie hast du das genannt?«
»Den entropischen Sturm«, antwortete der Weitwanderer.
»Dann nennen wir diesen Nebel, der das Chaos stiftet, von nun an Entropia.
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