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Alterra. Im Reich der Königin

Alterra. Im Reich der Königin

Titel: Alterra. Im Reich der Königin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maxime Chattam
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hatten, ragte die gewaltige schwarze Silhouette des Blinden Waldes am Horizont auf, so weit das Auge reichte.
    Inzwischen waren sie so nahe, dass Matt die vorderste Baumreihe erkennen konnte, das, was Terrell als den äußersten Ring bezeichnete. Die Stämme wirkten noch dicker als die der Mammutbäume, die Matt in seinem früheren Leben gesehen hatte. Der äußerste Ring bildete mit seinen stufenweise höher werdenden Baumkronen ein über mehrere Kilometer schräg ansteigendes Dach bis zum eigentlichen Blinden Wald, dessen Stämme hoch wie Berge und breit wie Fußballfelder in den Himmel ragten. Im Vergleich dazu wirkten die ersten Baumreihen winzig.
    Wie hatte die Natur es nur fertiggebracht, in gerade einmal sieben Monaten ein solches Waldgebirge entstehen zu lassen?
    Seit dem Sturm hatte sich die Pflanzenwelt nicht nur die Städte zurückerobert, sie wuchs auch mit unfassbarer Geschwindigkeit, noch rascher als ein tropischer Wald, und brachte dabei die erstaunlichsten Mutationen hervor.
    Die Gruppe durchquerte eine weite Ebene. In weniger als vier Stunden legte sie fünfzehn Kilometer zurück und erreichte schließlich die ersten mit Farnkraut bewachsenen Haine und Wäldchen aus Pappeln und Eichen.
    Matt begriff, dass sie diese Nacht am Fuße des Blinden Waldes verbringen würden, und zum ersten Mal seit seinem Aufbruch von der Carmichael-Insel wurde er von Zweifeln gepackt. War es nicht doch ein großer Fehler, diesen Weg zu nehmen? Dieser Ort schien einer anderen Welt anzugehören; er hatte keine Ahnung, was sie hier erwartete.
    Während Matt sich darüber den Kopf zerbrach, ging er unwillkürlich langsamer. Doch seine Kameraden vor ihm marschierten schweigend und entschlossen weiter.
    Es war zu spät, jetzt noch kehrtzumachen.
     
    Sie schlugen ihr Nachtlager einen knappen Kilometer vom Waldrand entfernt unter einer stattlichen Eiche auf. Tobias schnappte sich sein Fernglas und nutzte das letzte Tageslicht, um ornithologische Beobachtungen zu machen. Matt hatte ganz vergessen, dass sich sein Freund früher für Vögel begeistert hatte.
    »Geh nicht zu weit weg!«, rief er ihm besorgt zu.
    »Ja, Papa«, sagte Tobias spöttisch und kletterte auf einen Felsen.
    Einige Pans saßen auf ihren Schlafsäcken und massierten sich die Füße, andere benetzten sich das Gesicht mit dem kalten Wasser aus einem Bach oder legten sich einfach in den Schatten der Äste. Plusch zog los, um sich ihr Abendessen zu fangen, kam eine Stunde später zurück und schmiegte sich erschöpft an Matts Rucksack. Kurz darauf schnarchte sie leise.
    Matt holte einen Schleifstein aus einem der Lederbeutel an seinem Gürtel, besprenkelte ihn mit Wasser und rieb ihn gegen die Schneide seines Schwerts.
    Der Druck, den er auf den Stein ausübte, erinnerte ihn wieder daran, wie es sich anfühlte, wenn seine Klinge in den Leib seiner Gegner fuhr. Zunächst ein beinahe unmerkliches Beben, sobald die Spitze die Kleidung und die Haut durchbohrte, dann ein Widerstand, den es zu überwinden galt, und zuletzt der Eindruck, ein großes Messer in weiche Butter zu drücken. Niemals hätte er sich vorstellen können, wie traumatisierend dieses Erlebnis war.
    Er hatte nicht nur die Körper von Lebewesen, darunter auch Menschen, verstümmelt, er hatte manchen sogar das Leben genommen.
    Er hatte getötet.
    Um zu überleben, um zu beschützen.
    Aber dennoch hatte er getötet.
    Mit diesem Schuldgefühl musste er nun leben, mit dieser Erinnerung an unerbittliche Angriffe, klaffende Wunden, Todesstöße. An das Blut, die Klagen der Verletzten, das Röcheln der Sterbenden.
    Tobias stieg von seinem Beobachtungsposten herunter und kam zu Matt.
    »Das musst du dir mal ansehen«, sagte er leise.
    An seiner ängstlichen Miene erkannte Matt, dass es etwas Ernstes sein musste.
    Sie kletterten auf den Felsen, und Tobias reichte ihm das Fernglas.
    »Siehst du den Vogelschwarm dort, der ein V am Himmel formt? Folge ihm durch das Fernglas.«
    Matt tat wie geheißen und richtete das Objektiv auf die Vögel. Die Vergrößerung reichte nicht aus, um die Spezies genau zu bestimmen, und Matt fragte sich, was Tobias ihm eigentlich zeigen wollte.
    »Und was soll daran jetzt so besonders sein?«
    »Wart’s ab.«
    Die Formation flog auf den Blinden Wald zu. Durch das Fernglas wirkten die Baumstämme noch riesenhafter und gewaltiger als Wolkenkratzer. Würden die Vögel im Blinden Wald verschwinden?
    Sie gewannen an Höhe, kurz bevor sie in die Dunkelheit zwischen den Bäumen eintauchten,

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