Alterra. Im Reich der Königin
liebe Reisende. Nehmt euch die Zeit, euch hier einzuleben und über eure Suche nachzudenken. Ihr habt von jetzt an fünf Tage, um euch zu entschließen, ob ihr bleiben oder weiterziehen wollt. Sollte Letzteres der Fall sein, werdet ihr gute Argumente vorbringen müssen, denn wir riskieren nicht ohne triftigen Grund unser Leben, um euch in die Ferne zu begleiten.«
»Richtig: hervorragende Argumente! Wenn ihr uns nicht überzeugen könnt, bleibt ihr hier. Zu unserer, aber auch zu eurer eigenen Sicherheit.«
Es raschelte leise im Laub, als der Rat der Frauen den Ort verließ.
Matt warf seinen Gefährten einen Blick zu.
Auch sie wirkten sehr besorgt.
Alle drei fragten sich, wo sie da gelandet waren. Das Große Nest schien ein goldener Käfig zu sein.
Ein beeindruckender Ort, aber nichtsdestoweniger ein Gefängnis.
13. Geführter Rundgang
A m nächsten Morgen wurde Matt von einem sanften Klopfen an der Zimmertür geweckt. Seit dem Sturm hatte er nicht mehr in einem so bequemen Bett gelegen. Er hatte geschlafen wie ein Stein.
Das Tageslicht schimmerte durch die dicken, samtartigen Vorhänge. Er hatte ein Zimmer ganz für sich allein, Tobias und Ambre ebenfalls. Ambre hatte das gefallen, die beiden Jungen sahen darin eher ein Mittel, sie zu trennen und dadurch zu schwächen.
Matt stand verschlafen auf und öffnete die Tür. Es war Torshan, der ihm erklärte, wo es Frühstück gab.
Kurz darauf saßen sie zu viert auf einer Terrasse in etwa zwanzig Metern Höhe. Durch das Laub hatten sie eine herrliche Aussicht auf den Kai, die Bootshäuser und die vielen Stege, die zwischen den fünf Eichen verliefen. Auf zahlreichen weiteren Terrassen über ihnen standen kleine runde oder quadratische Häuser. Im Großen Nest ging es bereits hoch her: Tonnen und Kisten wurden über Gewinde in die Höhe gehievt, lange Bretter wurden entlang des Kais zu Bauplätzen getragen, und Matt sah eine Gruppe auf das Mutterschiff steigen, um es zu inspizieren.
»Wie viele seid ihr?«, fragte er Torshan.
»Sechshundertzwölf. Halt, jetzt nur noch sechshundertelf.«
»Wegen der Verbannung von Paleos, stimmt’s?«
Torshan blickte ihn überrascht an.
»Ja.«
»Was hat er getan?«
Torshan zögerte, bevor er sich zu einer Antwort durchrang.
»Er hat ›die höchste Schande‹ begangen. Ich meine, er hat … Ihr wisst schon, mit einem Mädchen …«
»Er hat mit einem Mädchen geschlafen?«, rief Tobias mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen.
»Das ist strengstens verboten!«, erwiderte Torshan und gewann seine Fassung wieder.
»Wurde das Mädchen auch verbannt?«, fragte Matt.
»Nein, denn sie hat ihr Verbrechen gestanden, und sie hat erklärt, dass sie sich von Paleos überreden ließ, weil sie in ihn verliebt war. Der Rat hat ihr verziehen und gibt ihr eine zweite Chance.«
»Warum ist es verboten?«, entrüstete sich Ambre. »Das ist doch etwas vollkommen Natürliches, und da wagt ihr zu behaupten, dem Leben und der Natur nahe zu sein!«
»Es ist kein Zufall, dass der Baum des Lebens gerade uns gerettet hat und uns das Privileg gewährt, anders zu sein«, entgegnete Torshan mit einem Anflug von Gereiztheit. »Wenn es stimmt, was ihr berichtet, dann sind die überlebenden Erwachsenen alle böse. Der Baum des Lebens entscheidet über alles, und wenn er gewollt hätte, dass es neue Kinder gibt, dann hätte er auch die Erwachsenen gerettet! Wir sind Kinder oder Jugendliche, und wir müssen es bleiben!«
»Und ihr glaubt im Ernst, dass ihr jung bleibt, wenn ihr keine sexuellen Beziehungen zulasst?«, fragte Ambre belustigt.
»Erinnert euch an euer Versprechen von gestern!«, raunzte Torshan. »Ihr müsst unseren Glauben respektieren!«
Ambre wollte etwas erwidern, begnügte sich dann aber mit einem Kopfschütteln, während sie sich in ihrem Stuhl aus Holz und geflochtenem Bambus zurücklehnte.
Matt und Tobias starrten sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Schock an. Sie hielt nicht nur dagegen, nein, sie redete ohne Scham über ein Tabuthema.
Das restliche Frühstück verlief in drückendem Schweigen. Torshan zeigte ihnen, wo sie ihr Geschirr abspülen konnten, und erklärte, dass das Große Nest über riesige Wasserspeicher verfügte, die hoch oben in den Bäumen installiert waren und das Regenwasser sammelten. Da der Höhenunterschied ausreichend Druck erzeugte, brauchte man unten nur den Wasserhahn aufzudrehen. Das gleiche System versorgte auch das Mutterschiff, dessen kugelförmige Auffangbecken eine gesamte
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