Alterra. Im Reich der Königin
haben, vermute ich das Schlimmste. Lass uns eine Herberge finden und dann schleunigst aus dieser Hölle verschwinden!«
Endlich entdeckten sie ein Schild, auf dem in verschnörkelten Buchstaben »Taverne Schank & Trank« geschrieben stand. Tobias blieb wie angewurzelt stehen.
»Was ist?«, fragte Ambre besorgt.
Tobias ging auf ein staubiges Schaufenster zu, das durch den Schmutz fast blind geworden war.
»Ich kenne diesen Laden«, sagte er beinahe fröhlich.
»Balthazars Bazar«,
las Ambre laut.
»Da drin war ich schon mal! In New York! Mit Matt und Newton! Komm, wir müssen nachsehen, ob es wirklich derselbe ist!«
Vor einem Jahr hätte Tobias alles gegeben, um nicht durch diese Tür gehen zu müssen, doch nun trat er fast glücklich über die Schwelle. In gewisser Weise stellte das Geschäft eine Verbindung zu seinem alten Leben dar. Den Beweis, dass dieses andere Leben kein Traum war, dass es wirklich existiert hatte.
Tobias erkannte die geheimnisvolle Stimmung und den stickigen Geruch im Innern sofort wieder. Die Regale hatten sich verändert, genauso wie die Verkaufsartikel, aber das Chaos war immer noch dasselbe: alte Bücher, Feuerzeuge, Streichholzschachteln, unterschiedlichste Brillen, Messer in allen Größen, Bettdecken, Geschirr, ein Waschbecken aus Porzellan, Fenster aus Aluminium, volle Werkzeugkisten … Wohin Tobias auch blickte, sah er Überbleibsel ihrer einstigen Welt.
Balthazar stand im hinteren Teil seines Ladens hinter einem verzinkten Tresen. Er hob den Kopf und sah seine beiden vermummten Kunden lauernd an. Seine struppigen Augenbrauen zogen sich zusammen.
Er war noch immer derselbe alte Griesgram mit dem hohlwangigen Gesicht, den weißen Haarbüscheln über den Ohren, der langen dünnen Nase und dem durchdringenden Blick hinter der alten Brille.
Als Tobias ihn sah, dachte er an einen Satz, mit dem Newton damals oft um sich geworfen hatte: »Du bist so abgrundtief hässlich!«, ein Zitat aus
Predator,
einem ihrer Lieblingsfilme. Er musste fast grinsen, ehe die traurige Wirklichkeit ihn wieder einholte.
Was war nach dem Sturm aus Newton geworden? War er wirklich tot?
»Kann ich behilflich sein?«, fragte Balthazar mit seiner rauhen Stimme.
Tobias trat näher, um nicht laut sprechen zu müssen, hielt aber wohlweislich Abstand, um sein Gesicht im Halbdunkel zu verbergen. Manchmal war seine Hautfarbe wirklich praktisch.
»Sie sind der alte Balthazar aus New York, nicht wahr?«
»New York? Wer sind Sie?«, donnerte der alte Mann.
Tobias und Ambre warfen sich einen kurzen Blick zu. Hatten die Zyniks die Erinnerung an ihr altes Leben verloren?
»Wo waren Sie, bevor Sie hier in der Stadt diesen Laden aufgemacht haben?«, formulierte Tobias seine Frage um.
»Ich bin schon immer hier! Seit der Katastrophe! Was soll diese Unverschämtheit?«
»Entschuldigen Sie, wir sind nicht aus der Gegend. Wir kommen aus dem Westen«, improvisierte Tobias. »Wir wollen uns Ihnen anschließen.«
»Haben Sie die Flammen der Vereinigung nicht gesehen?«
»Nein, was ist das?«
»Ungefähr zwei Monate nach der Katastrophe waren mehrere Wochen lang riesige Rauchsäulen am Himmel zu sehen. Alle Überlebenden liefen einzeln oder in Gruppen in Richtung dieser Flammen, die Königin Malronce für uns entfacht hat, um uns zu führen. Sagt Ihnen das nichts?«
»Nein, im Westen wissen wir davon nichts«, fabulierte Tobias.
Der Alte schien froh zu sein, ein wenig plaudern zu können. Er fuhr eifrig fort:
»Sie hat uns erklärt, dass aufgrund unserer Irrtümer und Sünden aus der Vergangenheit schreckliches Unheil über uns hereingebrochen ist, und zeigt uns nun, wie wir in der neuen Welt überleben können. Sie hat uns auch offenbart, dass die Kinder die Ursache allen Übels sind!«
»Die Kinder?«, wiederholte Ambre ungläubig. »Wieso das?«
»Sie sind schuld an der Katastrophe. Ihre Sorglosigkeit, ihre Streiche, ihre Exzesse, all das hat uns ins Chaos gestürzt! Um unseren Kindern zu gefallen, wollten wir immer mehr, und diese Maßlosigkeit hat schließlich zur Katastrophe geführt.«
»Aber dafür können doch die Kinder nichts!«, rief Ambre empört.
»Doch, die Königin weiß es! Sie hat davon geträumt, wissen Sie, sie hat die Zukunft gesehen.«
»Welche Zukunft? Hat das mit dieser Hautjagd zu tun?«, fragte Tobias.
Plötzlich schien Balthazar misstrauisch zu werden. Er neigte den Kopf, um seine Besucher besser sehen zu können.
»Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?«, fragte er
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