Alterra. Im Reich der Königin
als würde man ein Kind ins Gefängnis stecken, weil seine Eltern Verbrecher sind.«
Der Unschuldstrinker wies drohend mit dem Finger auf ihn.
»Du bist ganz schön frech«, sagte er mit gespielter Empörung. »Für diese Gotteslästerung werden dich die spirituellen Berater auf den Scheiterhaufen werfen.«
»Ich frage ja nur …«
»Laut Malronce ist nun der Zeitpunkt gekommen, uns von der Erbsünde zu befreien – unsere Kinder zu verleugnen und sie Gott zu opfern. Denn ihre Träume kommen direkt von Gott.«
»Und wenn das alles gar nichts mit irgendeinem Gott zu tun hat?«
»Was meinst du damit?«
»Es wäre doch genauso gut möglich, dass dieser gewaltige Sturm eine Art Abwehrreaktion der Erde war, um uns loszuwerden. Ambre hat dazu eine superinteressante Theorie! Sie glaubt, dass die Natur von einer Energie gelenkt wird, deren einziges Ziel es ist, Leben zu schaffen und zu bewahren. Wir, die menschliche Spezies, hatten uns zu einem idealen Träger entwickelt, da wir das Leben schließlich sogar über den Planeten Erde hinaus bis ins Weltall verbreiteten. Aber wir haben es zu weit getrieben: zu viel Raubbau, zu viel Umweltverschmutzung, zu viele gerodete Wälder. Unser Mangel an Respekt vor unserer Umwelt hat uns zu Feinden des Planeten werden lassen. Also wollte uns die Natur, so die Theorie, mit der Katastrophe Einhalt gebieten. Der Eingriff war mächtig genug, um unsere Welt auf den Kopf zu stellen, aber nicht so zerstörerisch, dass wir völlig verschwinden. Die Natur hat uns die Chance gegeben, diesmal gewissenhafter mit unserem Fortschritt umzugehen.«
»Erzähl weiter«, sagte der Unschuldstrinker, als Tobias eine kurze Pause machte, weil sein Mund schon ganz trocken war.
»Damit Tiere und Pflanzen unserer Herrschaft mehr entgegensetzen können, hat der Sturm ein gewaltiges Mutationspotenzial entfesselt und das Erbgut der Lebewesen verändert, so dass viele Spezies stärker und zäher geworden sind. Dieser Impuls, wie Ambre das nennt, hat auch die Kinder erfasst, die von der Katastrophe verschont worden sind, und ihre Entwicklung beschleunigt, damit sie eine Überlebenschance haben. Das passt zu dem, was ich mal irgendwo gelesen habe, nämlich dass die Evolution nicht konstant voranschreitet, sondern in Schüben passiert. Der Sturm war auch so ein Schub.«
»Wenn dem so ist, warum sind dann Erwachsene und Kinder voneinander getrennt worden?«
»Ähm …«
»Um uns selbständiger zu machen und unsere Anpassungsfähigkeit zu steigern«, erklärte Ambre, die in diesem Moment zur Tür hereinkam. »Oder als Test am lebenden Objekt.«
»Als Test?«, fragte der Unschuldstrinker nach.
»Ja, ob die Menschen es tatsächlich verdienen, weiterzuleben. Ob sie es verdienen, wieder für die Weiterverbreitung des Lebens zu sorgen. Ob sie sich wie früher gegenseitig abschlachten oder ob es ihnen diesmal gelingt, friedlich zusammenzuleben und ihre neuen Fähigkeiten richtig zu nutzen.«
»Und die Träume der Königin? Die bildet sie sich nicht ein!«
»In dem Moment, in dem der Sturm unser Erbgut verändert hat, sind vielleicht auch bestimmte Bilder im Geist mancher Menschen entstanden, oder diese Frau ist dadurch so empfänglich für ihre Umwelt geworden, dass sie die Bewegung der kleinsten Teilchen im Universum spüren kann und einen Sinn darin findet. Aber das sind natürlich nur Vermutungen.«
Der Unschuldstrinker rieb sich das Kinn. Die Ausführungen der beiden Jugendlichen hatten ihn sichtlich ins Grübeln gebracht.
»Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann steckt hinter diesem Sturm also eine klare Absicht, ein Plan. Das ist doch auch eine Art Allmacht – eben ein Gott!«
»Nein, kein Gott im Sinne eines allwissenden höheren Wesens«, erwiderte Ambre, »eher die Grundsubstanz allen Daseins, eine Energie: das Leben. Und diese Energie treibt das Universum an, ganz ohne Hintergedanken, in einer Kette von Reaktionen und Gegenreaktionen, die sich unaufhörlich vorwärtsbewegt, so wie Wasser von der Schwerkraft angezogen vom Gipfel eines Bergs zu Tal strömt.«
Der Unschuldstrinker verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dann stelle ich die Frage einmal andersherum: Wer hat dieses Wasser geschaffen? Wer hat es vom Gipfel eines Berges herablaufen lassen und warum? Die Existenz eines Gottes passt da durchaus ins Bild.«
»Vielleicht«, gab Ambre achselzuckend zu, »das will ich gar nicht bestreiten. Ich sage nur, dass man das Ganze auch anders erklären kann. Dass eine natürliche Harmonie
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