Alterra. Im Reich der Königin
möglich ist, dass die Menschen sein können, wie sie wirklich sind, ohne sich hinter fragwürdigen Moralbegriffen zu verschanzen, die sie eher schwächen als in ihrer Entwicklung fördern. Meine Theorie leugnet nicht, dass es einen Gott geben kann, aber sie rückt ihn in weitere Ferne.«
»Gott ist kein Selbstbedienungsladen, in dem man sich holt, was einem gerade so passt«, mahnte der Unschuldstrinker, »ihr tut gerade so, als wäre Gott ein Menü, das ihr euch selbst zusammenstellen könnt.«
»Das ist es ja gerade, was mich an den Erwachsenen stört: Die Dinge müssen immer fein säuberlich geordnet sein, sie lassen keinen Raum für Phantasie, Vorstellungskraft, Daseinsfreude! Dabei ist Gott genau das, wenn Sie mich fragen.«
Tobias spürte, dass der Unschuldstrinker die Geduld verlor, und wechselte das Thema.
»Die Große Karte, von der Sie vorhin gesprochen haben, was ist das eigentlich genau?«
Der Unschuldstrinker starrte Ambre durchdringend an, bevor er Tobias antwortete.
»Das ist eine besondere Anordnung von Muttermalen, die das gesuchte Kind auf dem Körper hat. Malronce hat diese Konstellation aufgezeichnet und eine Kopie nach Babylon geschickt. Bei der Entblößung der Gefangenen wird das Muster, das ihre Muttermale ergeben, mit der Großen Karte verglichen, und wenn man fündig geworden ist, soll das Kind unverzüglich der Königin überstellt werden.«
»Die ihm die Haut abziehen will«, ergänzte Tobias.
»Ja, um sie auf dem Tisch auszubreiten, auf dem Malronce nach der Katastrophe erwacht ist«, fuhr der Unschuldstrinker fort. »Dann wird auf der Karte die genaue Lage des Verlorenen Paradieses erscheinen.«
»Wie sieht dieser Tisch genau aus?«, fragte Ambre.
»Es ist ein flacher schwarzer Fels, auf dessen Oberfläche eine Weltkarte zu sehen ist. Wir nennen ihn das Steinerne Testament.«
»Woher wissen Sie das alles?«, bohrte Tobias nach.
»Ich bin bei der Entblößung der Pans dabei. Das ist … ein Hobby von mir.«
»Was ist denn so toll daran?«
Der Unschuldstrinker setzte ein Grinsen auf, das Tobias nicht geheuer war.
»Ich umgebe mich eben gern mit Kindern, weißt du. Sobald feststeht, dass keiner der gefangenen Pans der richtige ist, werden sie auf dem Marktplatz als Sklaven versteigert. Ich habe mir eine hübsche Sammlung zusammengekauft.«
»Aber in Ihrem Turm haben wir nur Colin gesehen«, wunderte sich Tobias, der immer noch nicht begriff.
»Ja, ganz richtig. Die anderen … Tja, die anderen sind nur vorübergehend meine Gäste, das ist alles.«
Der Unschuldstrinker stieß ein dreckiges Lachen aus, das Tobias durch Mark und Bein ging. Dann stand er auf und ging zum Cockpit.
»Ich werde mal nach dem Rechten sehen. Fangt ruhig schon mit dem Essen an, ich komme später nach.«
Kaum war er verschwunden, hopste Ambre zu Tobias aufs Sofa.
»Die Muttermale also«, sagte sie nachdenklich. »Ich dachte immer, dass sie ganz zufällig verteilt ist, aber nein, sie haben natürlich eine tiefere Bedeutung! Die Natur ist viel zu klug eingerichtet, um das dem Zufall zu überlassen. Die Muttermale sind eine Form der Kommunikation, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
»Du meinst, dass wir mit einer Art Botschaft geboren werden?«
»Vielleicht ist es der Name, den uns die Natur gegeben hat, oder eine Orientierungshilfe, um zu einem Ort der Harmonie zu gelangen, oder ein Bruchstück eines Satzes, das sich mit denen aller anderen Menschen zu einem Buch des Lebens zusammenfügen lässt, was weiß ich! Ist das nicht der Wahnsinn?«
»Mir will trotzdem nicht so recht in den Kopf, dass einer von uns mit einer Karte auf der Haut zur Welt kommt.«
»Warum denn nicht? Jede Zelle unseres Körpers enthält unsere gesamten Erbinformationen, und das ist durchaus so etwas wie eine Bauanleitung, wie wir zusammengesetzt werden sollen. In der Natur hat alles seinen Sinn und Zweck, also erfüllen auch die Muttermale eine bestimmte Funktion. Diese ›Karte‹, die Malronce sucht, führt sicher zu etwas Hochbedeutendem.«
»Dann könnte es wirklich eine Art Paradies sein?«
»Wenn das Verlorene Paradies ein Weg ist, mit der Natur in Einklang zu leben, warum nicht?«
»Glaubst du, dass die Karte sozusagen der Schlüssel zum Glück ist?«
»Überleg doch mal, wenn die Natur diesen Ort so gut versteckt, muss es sich um etwas ganz Wesentliches handeln, das eng mit uns allen verbunden ist. Die Grundlage des Daseins, und doch ein großes Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Ort die Quelle des
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