Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Gans den Hals umdreht.
Wenn Marrah hätte schreien können, dann hätte sie gellend geschrien, aber der Knebel in ihrem Mund zwang sie zu schweigen. Die Menge jubelte, und Changar trat beiseite und bedeutete jemandem, die Leiche loszuschneiden. Ein Krieger trat vor, ein großer Mann mit schwarzem Haar und einer Pferdetätowierung auf der rechten Wange. Marrah erkannte ihn als den besten Fährtenleser des Stammes, einen Mann namens Iktahan. Iktahan zog seinen Dolch hervor und zertrennte die Fesseln, die die Tcvali-Sklavin an den Pfahl banden. Einen Moment lang stand die Tote aufrecht, schwankte leicht hin und her. Dann kippte ihr Körper vornüber, und sie stürzte mit einem dumpfen Aufprall ins Grab hinunter. Sie landete rechts neben Zulike und lag dort zusammengekrümmt, mit einem Arm über dem Gesicht, als bettelte sie noch immer um Gnade.
» Glückliche Braut! « rief Changar.
Die Trommler schlugen die Trommeln, die Zuschauer stimmten das Hochzeitslied an, und jemand schlug zwei kupferne Becken zusammen. Die Nomadenfrauen hakten sich gegenseitig unter und begannen im Kreis zu tanzen, wie sie es auf Marrahs Hochzeit getan hatten. Bald tanzten mehrere kleine Kinder mit ihnen.
Als Changar auf sein nächstes Opfer zutrat, schloß Marrah die Augen. Sie hatte genug gesehen. Ihr war übel vor Grauen, und sie fühlte sich völlig machtlos. Sie waren alle hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert, kannten nichts tun, um sich zu verteidigen. Sie würden alle sterben, eine nach der anderen, mit Changars Bogensehne um den Hals.
Sie konnte zwar die Augen vor dem Geschehen verschließen, nicht aber die Ohren. Ganz gleich, wie angestrengt sie sich bemühte, sie konnte die Geräusche nicht verdrängen. Das grauenhafte Wolfsgeheul wiederholte sich, und weitere Leichen schlugen auf den Steinboden in Zuhans Grabkammer auf. Als Marrah die Augen wieder öffnete, waren sieben der Pfähle, an denen Sklavinnen gestanden hatten, leer. Stavan mußte Zeuge der Morde gewesen sein, denn auf seiner Brust waren blutige Striemen zu erkennen, da er versucht hatte, seine Fesseln zu sprengen. Dalish stand wie eine Statue da – vielleicht hatte sie sich in eine Art Trance versetzt –, aber die arme Akoah kam gerade wieder zu sich.
Ihre Augenlider flatterten. Langsam öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Sieben Sklavinnen lagen bereits tot neben Zuhan, und Changar war im Begriff, eine achte hinunterzuschicken. Als sich der Wahrsager dem nächsten Opfer näherte, begriff Akoah, was geschah, und begann zu schreien. Der Schrei, den sie ausstieß, war anders als alles, was Marrah je zuvor gehört hatte: Er war unmenschlich und grauenhaft, und alle Todesangst der Welt schwang darin mit.
Changar hielt mitten in der Bewegung inne und fuhr zu Akoah herum. Er hatte eindeutig vorgehabt, zuerst alle neun Sklavinnen zu erdrosseln, bevor er die Konkubinen opferte, aber Akoahs Gejammer verärgerte ihn. Er verschonte die achte Sklavin für den Augenblick, machte kehrt und bahnte sich einen Weg zu der anderen Seite des Grabes. Während er dorthin ging, ließ der Wind seine Wolfspelze flattern und blies sein graues Haar wie eine Pferdemähne zurück. Seine weißumrandeten Augen und sein blutrot bemaltes Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines Raubtieres, aber sein Gesichtsausdruck war menschlich. Er war wütend.
Sobald die Zuschauer Changar in Akoahs Richtung streben sahen, wußten sie, daß er entschieden hatte, sie vorzeitig zu opfern. Die Trommler wechselten zu einem anderen Schlagrhythmus, und die Frauen hörten auf zu tanzen und begannen zu singen.
»Glückliche Braut, glückliche Braut,
du wirst den Hauch des Paradieses atmen. Freue dich, freue dich!«
Aber etwas stimmte nicht. Das Lied geriet irgendwie aus dem Takt; einige der Frauen sangen völlig falsch, andere schienen den Text vergessen zu haben, und wieder andere hörten plötzlich auf zu singen. Vielleicht war es der Anblick von Changar, der sie mittendrin abbrechen ließ. Als er auf Akoah zuschritt, begann er seltsame Dinge zu tun. Zuerst zögerte er; dann, aus keinem ersichtlichen Grund, stolperte er unvermittelt. Er fing sich gerade noch, indem er sich an einem der leeren Pfähle festhielt, und stand einen Augenblick verwirrt und unsicher da. Er strich sich mit einer Hand übers Gesicht und rieb sich die Augen. Dann stieß Akoah erneut einen gellenden Schrei aus, und er behandelte sie, wie sich ein Mann bei einem bellenden Hund verhalten würde.
»Ruhig!« brüllte er, aber die arme Akoah
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