Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
obwohl Marrahs Haar lockiger als das ihrer Mutter war. Statt zu einem ordentlichen Knoten im Nacken zusammengeschlungen zu sein, wie es bei Sabalah der Fall war, fiel Marrahs Haar in einer dicken Mähne über ihren Rücken herab. Sie sah aus wie jemand, der voller Energie steckt, ein Mädchen, das »sich vom Wind treiben läßt«, wie es das Küstenvolk ausdrückte: mutig und unerschrocken, vielleicht ein wenig unbesonnen, aber noch jung und unerprobt. Die energische Linie ihres Kinns und die Offenheit ihres Blicks deuteten darauf hin, daß sie mit der Zeit vielleicht ruhiger und häuslicher werden und eine ebenso mächtige und angesehene Priesterin wie ihre Mutter werden würde, doch mit dreizehn hungerte es sie nach Abenteuern, und sie war nicht allzu wählerisch, wenn sich ihr eine Gelegenheit dazu bot.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß die anderen noch eine Weile schlafen würden, stand sie leise auf und nahm ihr Kleid von einem hölzernen Wandhaken. Das Kleid war das einzige Kleidungsstück, das sie besaß, ein einfaches, langärmeliges Gewand aus weichem Wildleder, das von ihren Schultern bis zur Mitte ihrer Waden herabhing. Später am Tag würde sie einen feinen zeremoniellen Rock aus importiertem Leinen tragen, der dem Tempel gehörte, aber Leder war das Material für Alltagskleidung, manchmal mit Perlen und Muscheln bestickt, doch häufiger schlicht und schmucklos.
Barfuß schlich Marrah auf Zehenspitzen durch die Schlafecke und betrat den Hauptteil des Hauses. Es war nicht das größte im Dorf, nicht mehr als siebzig mal zwanzig Schritt groß, und es wohnten nur sieben Familien darin, aber es war behaglich und solide gebaut – das Fachwerk bestand aus Eichenbalken, das Dach war dick mit Reet gedeckt, und die Wände bestanden aus fest miteinander verflochtenen Haselnußzweigen, die mit gehärtetem Lehm verputzt waren. Grob rechteckig in der Form, hatte das Haus Türen an beiden Enden, im Moment mit Ledervorhängen verschlossen, die mit Holzlatten dichtgemacht wurden. Wenn starker Wind herrschte, so wie am Abend zuvor, wurden die Holzlatten zusätzlich mit Steinen gesichert. Marrah überprüfte die Vorhänge und stellte erleichtert fest, daß alle Steine noch an Ort und Stelle lagen. Alle sieben der Hauptfeuerstellen waren zum Glück noch verlassen, und nichts ließ erkennen, daß schon irgend jemand aufgestanden war, um frisches Holz in die Feuer nachzulegen. Selbst Baby Seshi war noch nicht erwacht. Izirda mußte den Kleinen schon gestillt haben, um sich danach noch eine Weile schlafen zu legen.
Die Luft war rein! Auf leisen Sohlen lief Marrah zu der westlichen Tür, hob die Steine hoch, legte sie sorgfältig auf einer Seite ab, zog den Ledervorhang zurück und trat hinaus auf den breiten Weg aus fein zerstampften, weißen Muscheln. Zakur und Laino, zwei der Dorfhunde, erhoben sich, um sie schwanzwedelnd zu begrüßen, doch da sie Marrah schon seit der Zeit kannten, als sie Welpen gewesen waren, taten sie es ruhig. Sie waren groß und zottelig, mit einer Menge Wolfsblut in ihren Adern; wenn Marrah eine Fremde gewesen wäre, hätten sie so laut Alarm geschlagen, daß alle davon aufgewacht wären.
Einen Augenblick blieb Marrah stehen und kraulte die Hunde hinter den Ohren, während sie ihren Blick über das schlafende Dorf schweifen ließ. Es gab wohl kaum einen schöneren Anblick auf der Welt als Xori kurz vor Sonnenaufgang. Seine sechs Langhäuser waren in einer Krümmung der Uferlinie erbaut worden, an einer Stelle, die zumindest etwas Schutz vor den schlimmsten Meeresstürmen bot. Sie waren in zwei Reihen von jeweils drei Häusern angeordnet, mit einem kleinen Tempel am einen Ende, einer hölzernen Plattform am anderen und einem großen Platz in der Mitte für Zeremonien und Feste. Es verging nur selten ein Monat, in dem kein Festmahl über der großen, von Steinen gesäumten Feuergrube gekocht wurde; es gab kaum eine Woche, in der die Füße der Tanzenden nicht über das Muschelpflaster stampften, und kaum eine Nacht, in der die Trommeln und Pfeifen schwiegen. Das Leben im Dorf war religiös und zeremoniell. Das Volk der Küste verehrte die Göttin Erde, indem es gut und reichlich aß, wunderschöne Lieder sang, sich des Lebens freute und Liebe machte, und wenn jemand Marrah erzählt hätte, daß es Völker gab, die ihre Götter verehrten, indem sie sich Buße und Leid auferlegten, dann hätte sie das unglaublich gefunden.
Hinter dem Dorf lagen die Felder, umgeben von lebenden Zäunen aus
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