Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
mit den Ausrangierten. »Was für ein Glück, daß der Regen aufgehört hat, sonst würden all die netten jungen Männer, die von so weit her gekommen sind, um dich zu beeindrucken, im Schlamm tanzen wie eine Schar nasser Enten.«
Marrah war überrascht über Sabalahs Reaktion. Eigentlich hatte sie eine Strafpredigt erwartet. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen, wußte nicht, was sie sagen sollte. Dann fiel ihr der Feuerstein wieder ein. »Hier, ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte sie und reichte ihrer Mutter den gräulich weißen Steinklumpen. »Es ist ein großes Stück, sogar noch größer als das, das Arang im letzten Herbst gefunden hat.«
Sabalah nahm den Stein und wog ihn in ihrer Handfläche. Obwohl sie äußerlich ruhig erschien, war sie außer sich vor Sorge gewesen, als sie aufwachte und feststellte, daß Marrah verschwunden war. Sie wußte, es wäre typisch für das Mädchen, zur Feier des Tages irgendeinen gefährlichen Akt zu vollbringen, und vor ihrem inneren Auge waren quälende Visionen von Marrah vorbeigezogen, wie sie tief in den Wald wanderte und von Wölfen zerrissen wurde oder aufs Meer hinausschwamm und hilflos ertrank. Alles törichte Sorgen natürlich, aber Sabalahs einziger Fehler war ihre Überfürsorglichkeit.
Sie liebte ihre beiden Kinder so sehr, daß sie sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte, und wann immer Marrah wegging, ohne ihr zu sagen, wohin sie wollte, wurde Sabalah von der schrecklichen Furcht überwältigt, daß die Tiermenschen gekommen waren, um ihre Tochter zu rauben. Was sie jetzt fühlte, als sie den Feuerstein betrachtete, war eine Erleichterung, so groß, daß ihr fast schwindelig wurde, aber sie hatte nicht die Absicht, sich ihre Empfindungen vor Marrah anmerken zu lassen, jedenfalls nicht heute.
Hmmm«, meinte sie, während sie so tat, als prüfte sie den Feuerstein, »nicht schlecht. Du hast recht, er ist größer als das Stück, das Arang nach Hause brachte. Tatsächlich ist es schon eine ganze Weile her, seit irgend jemand einen Feuerstein von dieser Größe entdeckt hat. Heute muß dein Glückstag sein.« Sie hielt inne und blickte Marrah geradewegs in die Augen. »Wo hast du ihn gefunden?«
»Am Strand.« Marrah errötete leicht und starrte auf den Fußboden, als hätte sie dort plötzlich etwas Interessantes entdeckt. Im Grunde war es noch nicht mal eine Lüge – wenn man bereit war, Land unter Wasser als »Strand« zu bezeichnen.
Sabalah ließ sich jedoch nicht täuschen. Sie musterte Marrah vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, und ihre Augen wurden schmal, aber sie sagte nichts. Sie wußte, der Feuerstein konnte nur vom Meeresgrund am Fuße der Klippen stammen. Wenn man das feuchte Haar des Mädchens sah, war nur allzu offensichtlich, was sie ausgeheckt hatte. Erst gestern hatte sie ihre Tochter gescholten und ihr dann eine ganze Reihe von Ratschlägen erteilt, wie man sich am besten verhielt, um ein langes, glückliches und sicheres Leben zu führen – und keiner dieser Ratschläge hatte die Möglichkeit eines waghalsigen Sprunges von den Klippen eingeschlossen –, aber Sabalah hatte sich geschworen, daß sie von heute an damit aufhören würde, Marrah wie ein Kind zu behandeln. Es war an der Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß ihre Tochter jetzt eine Frau war.
Sie legte den Feuerstein neben sich auf den Boden und machte sich wieder daran, die Erdbeeren zu verlesen. »Wie wär's mit einer schönen Tasse frischer Milch?« fragte sie, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, tropfnaß und mit einem großen Feuerstein in der Hand im Haus zu erscheinen. »Arang ist gerade mit dem Melken fertig geworden, und wie durch ein Wunder hat er die Milch heute auf dem Rückweg von den Pferchen einmal nicht verschüttet.«
Marrah nickte, verwundert, daß ihre Mutter keine Fragen stellte. Sie setzte sich und wartete, während ihre Mutter einen Becher frischer Ziegenmilch aus einer der Gemeinschaftskannen einschenkte und ihn ihr reichte. Die Milch war noch lauwarm, und sie trank durstig, als ihr plötzlich einfiel, daß sie kein Frühstück gehabt hatte. Sabalah beobachtete ihre Tochter einen Moment und griff dann in den Korb mit Erdbeeren, nahm eine Handvoll heraus und bot sie ihr an.
»Mögen Amonah und Xori dich an diesem Tag segnen«, sagte sie.
»Und die Mutter segnen, die mich geboren hat«, erwiderte Marrah. Es war eine traditionelle Antwort, doch sie kam aus ihrem tiefsten Herzen. Als sie die Beeren aß,
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