Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
gegen den Felsen unter ihr brandeten, und im nächsten Moment schlug sie so hart auf das Wasser auf, daß es ihr den Atem raubte. Tiefer und immer tiefer tauchte sie durch die kalte salzige See auf die Felsen am Boden zu, und dann, gerade als sie dachte, sie würde mit Sicherheit auf die scharfkantigen Steine prallen, wurde sie langsamer, und ihre Füße trafen auf etwas Hartes, während die Brandung sie erfaßte und sie nach vorne zum Fuß der Klippen schleuderte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen dunklen, zackigen Schatten auf sich zugleiten. Instinktiv hob sie die Arme, um ihr Gesicht zu schützen, berührte etwas und schloß blitzschnell die Hand darum. Völlig außer Atem, kämpfte sie sich an die Wasseroberfläche zurück und sah, daß sie ein Stück grauen Feuersteins umklammert hielt.
An Land gab es im ganzen weiten Umkreis von Xori nirgendwo Ablagerungen von Feuerstein; man fand nur hin und wieder Stücke wie dieses, die gelegentlich vom Meer angespült wurden. Das vernünftigste wäre gewesen, den Stein wieder ins Wasser fallen zu lassen, aber Feuerstein war kostbar, und dieses Stück hier war so groß, daß Marrah es festhielt, als sie auf den kleinen Sandstrand links von den Felsen zuschwamm.
Als sie sich aus den Wellen gezogen hatte, war sie völlig erschöpft. Keuchend und am ganzen Körper zitternd, lag sie auf dem Rücken und blickte in den Himmel hinauf, zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen. Allmählich wurde der Himmel heller, die Sonne stieg über dem Wald auf, und der Sand begann in ihrem Licht zu glitzern. Als die Sonnenstrahlen ihren eiskalten Körper erwärmten, kam Marrah wieder zur Besinnung und setzte sich auf, um das Salzwasser aus ihrem Haar zu wringen. Ich hab's geschafft! dachte sie jubelnd. Sie hob den Feuerstein auf und betrachtete ihn eingehend, erfreut über das, was sie sah. Wenn er erst einmal die richtige Form hatte, würde er ein gutes Messer oder einen Schaber abgeben. Marrah entschied, ihn ihrer Mutter zu geben. Offensichtlich war der Stein ein Geschenk von Amonah. Wer weiß, vielleicht war er sogar ein Zeichen, daß der Rest des Tages ebensogut verlaufen würde. Sie rappelte sich auf und kletterte mit der Geschmeidigkeit einer Ziege zur Spitze des Felsens hinauf.
Wenig später kehrte sie wieder ins Dorf zurück, das während ihrer Abwesenheit zu geschäftiger Aktivität erwacht war. Kleine Kinder liefen in die Wälder, um mit Armen voller Rosen, Glockenblumen, Veilchen, gelben Klees, Ringelblumen und Dutzenden von anderen Blumen zurückzukehren, aus denen die älteren Kinder lange Girlanden flochten, die den Stein der Göttin schmücken sollten.
Begi und Alaba, Urgroßmutter Amas älteste Töchter, waren dabei, eine Grube auszuheben und sie mit heißen Steinen und Seetang zu füllen, um zwei große Körbe voller Miesmuscheln, Krebse und Krabben in Dampf zu garen. Ziegen und Schweine brieten auf Spießen über der großen Kochstelle in der Mitte des Platzes, und von dem großen Gemeinschaftsofen in der Nähe des Tempels wehten verlockende Düfte nach gebackenen Honigkuchen, Brot und einem speziellen Festtagspudding herüber, der aus Eichelmehl, getrockneten Äpfeln, getrockneten Kirschen und Ziegenmilch zubereitet wurde.
Als Marrah durch das Dorf eilte, sah sie, daß die meisten ihrer Freunde und Nachbarn inzwischen auf den Beinen waren. Einige standen vor den Türen ihrer Langhäuser, während sie aus Kübeln Wasser über sich gossen oder sich gegenseitig den Rücken schrubbten mit einer harten braunen Seife, aus Fett und Asche hergestellt. Andere kämmten und flochten ihr Haar oder bemalten ihre Gesichter mit Familiensymbolen, während wieder andere ihre besten Kleider anlegten.
Am entgegengesetzten Ende des Dorfes trommelte und tanzte die Gemeinschaft der jungen Männer in einer hektischen Generalprobe in letzter Minute – zwar außer Sicht, nicht aber außer Hörweite der Gemeinschaft der jungen Frauen, die sich vor dem Tempel versammelt hatten, um zu singen. Das gesamte Dorf schien sich zum Rhythmus der Trommeln zu bewegen, und als Marrah stehenblieb, um auf den Klang zu horchen, trafen gerade die ersten Gäste aus den beiden Nachbardörfern ein. Laute Begrüßungsrufe ertönten, und die Neuankömmlinge eilten weiter, um den Friedenskuß mit ihren Verwandten zu tauschen, die sie seit dem Fest des Schwalbenmondes vor zwei Monaten nicht mehr gesehen hatten. Obwohl die drei Dörfer nicht weit voneinander entfernt lagen, neigten die meisten Leute dazu,
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