Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
war sie von inniger Liebe zu Sabalah erfüllt. Die Erdbeeren waren dick und reif, fest in ihrer Hand und süß auf ihrer Zunge. Sie griff in den Korb, um sich noch eine Handvoll herauszunehmen. Seltsam, ihre Mutter hatte kein Wort über ihre Abwesenheit verloren. Erstaunlich, wirklich erstaunlich. Zum ersten Mal fühlte Marrah einen Vorgeschmack dessen, wie es wohl sein würde, eine Frau zu sein, doch sie hatte keine Muße, dieses Gefühl auszukosten, denn fast sofort darauf begann die erste der Zeremonien zu Ehren ihrer Volljährigkeit.
»Marrah! Marrah!« rief ein Chor von schrillen Stimmen. »Komm heraus! «
»Das muß die Gemeinschaft der Kinder sein, die gekommen ist, um dir ein Abschiedslied zu singen«, sagte Sabalah. Sie nahm den leeren Becher aus Marrahs Hand und küßte sie auf die Stirn. »Geh zu ihnen, und möge ihre Gnade dich begleiten.«
Marrah eilte aus dem Langhaus, um die gesamte Gemeinschaft der Kinder in einem etwas schiefen Halbkreis draußen versammelt zu sehen, wie eine Schar kleiner Vögel, bereit zum Flug. Sie waren eine hübsche, gesund aussehende Truppe und so zappelig vor Aufregung, daß sie kaum stillstehen konnten. Die älteste war ein Mädchen, nur wenig jünger als Marrah, und der jüngste ein Junge, der kaum alt genug war, um laufen zu können. Arang war natürlich unter ihnen, und er sah enorm stolz aus, denn es war seine Schwester, die heute im Begriff war, eine Frau zu werden, und er hatte das Gefühl, daß etwas von all dem Glanz und der Ehre auch auf ihn abfärbte.
Alle waren mit Blumenketten geschmückt, und alle hatten die rosige Haut von Kindern, die erst Minuten zuvor von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser geschrubbt worden waren, und als Marrah sie anschaute, konnte sie fast den rauhen Waschlappen auf ihrer eigenen Wange spüren. Bis heute hatte sie immer bei ihnen gestanden. Jetzt, zum ersten Mal in ihrem Leben, stand sie abseits von der Gruppe. Sie sangen:
»Lebe wohl, Marrah,
lebe wohl, lebe wohl.
Deine Kindheit ist vorbei,
und du verläßt uns jetzt.
Du fliegst davon
wie die Wildgans.
Du verläßt deine alten Spielkameraden,
um eine Frau zu werden.
Lebe wohl, lebe wohl.
Wir werden dich vermissen.«
»Und ich werde dich vermissen«, sagte Arang, als das Lied zu Ende war. Er rannte zu Marrah, schlang seine Arme um ihre Taille und drückte sie fest an sich. Einen Moment lang stand er so da, während er sich an seine Schwester klammerte und an all die schönen Zeiten dachte, die sie miteinander erlebt hatten: an die Bäume, die sie zusammen erklettert hatten, die wilden Beeren, die sie in sich hineingeschlungen, die wundervollen Geschichten, die Marrah ihm erzählt hatte über Bären, die sprechen konnten, und Rehe, die wie Menschen tanzten. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Vorteile es haben sollte, daß seine Schwester heute zur Frau wurde. »Ich wünschte, du könntest bis in alle Ewigkeit ein Kind bleiben«, murmelte er sehnsüchtig. »Ich hasse die Idee, daß du erwachsen wirst.«
Marrah war zutiefst gerührt. Sie hatte nicht erwartet, daß sie eine Spur von Bedauern darüber empfinden würde, ihre Kindheit hinter sich zu lassen. Sie umarmte Arang herzlich, bevor sie ihn hochhob und ihm einen Kuß gab. »Bis in alle Ewigkeit ein Kind bleiben? Nein, danke, kleiner Bruder. Ich freue mich darauf, eine Frau zu sein.«
Das ist doch albern, dachte sie. Wenn ich so weitermache, fange ich gleich an zu heulen! Sie stellte Arang wieder auf die Füße und hob in ihrer besten Große-Schwester-Manier sein Kinn zu sich hoch. »Ist dir klar, mein Junge, daß ich ab morgen meinen gesamten Jahresanteil an Honig an einem Tag aufessen darf, wenn ich will?«
»Und das ist noch nicht alles«, warf die neunjährige Majina ein und zwinkerte den anderen Kindern zu, die daraufhin in übermütiges Gekicher ausbrachen, denn nachdem Marrah jetzt eine Frau war, erwartete man von ihr, daß sie heute nacht mit einem jungen Mann ihrer Wahl in die Wälder gehen würde, und die Kinder, die auf engem Raum mit Erwachsenen lebten, wußten genau, was die beiden miteinander tun würden.
»Und Bere wird der Auserwählte sein«, fügte Egin wichtig hinzu, und der Rest der Kinder griff den Namen auf, als wäre er ein Lied. » Bere, Bere! « riefen sie im Sprechchor. » Marrah wird die Nacht mit Bere verbringen! «
Bere war der Sohn von Hostar und einer der besten Jäger im Dorf. Wie seine Mutter war er schlank und von ruhigem Wesen, bewegte sich lautlos wie ein
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