Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Schatten durch den Wald und war manchmal in der Lage, Kaninchen mit seinen bloßen Händen zu fangen. Bere, ebenfalls dreizehn, hatte seine Zeremonie zur Erreichung der Volljährigkeit erst knapp sechs Monate zuvor gefeiert. Nachdem er zum Mann geworden war, hatten sich er und Marrah voneinander fernhalten müssen, bis sie zur Frau wurde – ein Verbot, das Bere mit einem mißmutigen Gesichtsausdruck durch das Dorf hatte schleichen lassen, den alle, selbst die Kinder, urkomisch fanden.
Marrah lachte, als sie sah, wie die Kinder grinsten und sich gegenseitig wissend in die Rippen stießen. Sie wußte, daß sie heute noch eine Menge scherzhafter sexueller Bemerkungen zu hören bekommen würde, die zwar alle gutmütig wären, aber im Laufe des Tages zunehmend deutlicher werden würden. Die Tradition verlangte, daß Mädchen, die zur Frau wurden, und Jungen, die zum Manne wurden, mit allen Arten von schlauen Hinweisen und Anspielungen auf den Liebesakt in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen werden sollten, so als wüßten sie möglicherweise nicht, was zu tun war, wenn man ihnen nicht auf die Sprünge half –was lächerlich war, da jedes Kind wußte, wie man Babies machte, oder auch, was das betraf, eine Empfängnis verhütete.
»Woher wollt ihr wissen, daß es Bere sein wird? « rief Marrah über das Spektakel hinweg.
»Weil alle im Dorf wissen«, rief eines der Kinder herausfordernd, »daß du bestimmte Spiele mit ihm gespielt hast, seit du alt genug warst, um zu laufen. Und jeder im Dorf weiß, daß du über ein Jahr lang mit ihm in die Wälder geschlichen bist, bevor er zum Mann wurde.«
Marrah krümmte sich in hilflosem Lachen, als sie die Kinder mit Erdbeeren zu bewerfen begann und sie in alle Richtungen davonrannten. Soviel zum Thema Privatsphäre!
Der Rest des Morgens verlief wesentlich feierlicher. Ungefähr fünf Minuten nachdem die Kinder verschwunden waren, erschien der Chor der Gemeinschaft der jungen Frauen, barbrüstig und mit Fransenröcken aus Leder und Muschelgürteln bekleidet. Nachdem sie Marrah geküßt und mit einem Blumenkranz geschmückt hatten, führten sie sie durch das Dorf und begleiteten sie dann zum Tempel, während sie Lieder zu Ehren von Amonah, Xori und der Göttin Erde sangen.
Im Inneren des Tempels wurde Marrah entkleidet und mit geweihtem Wasser gewaschen, anschließend wurde ihr Körper mit Öl eingerieben und ihr Haar zu Locken gedreht, geflochten und mit Blumen und Federn geschmückt. Dann bemalten Sabalah, Urgroßmutter Ama und vier andere Priesterinnen sorgfältig ihre Brüste mit den heiligen Kreisen und Dreiecken, überpuderten ihre Brustspitzen mit hauchdünn geriebenem Muskovit, färbten ihren Bauch und ihre Hüften schwarz für Fruchtbarkeit und zogen anschließend mit rötlichem Ocker neun Linien auf ihre Wangen für die neun Monate der Schwangerschaft.
Als sie fertig waren, kniete sich Sabalah zu Marrahs Füßen nieder und breitete fünf Muschelschalen aus, die diverse Farbpigmente enthielten. An Marrahs linkem Knie beginnend, malte Sabalah eine Schlange, die sich in lebensspendenden, schlängelnden Bewegungen um den Körper ihrer Tochter ringelte.
Obwohl jedes Haus im Dorf seine eigene Glücksschlange hatte, war das Symbol kein althergebrachter Brauch in Xori, und während Sabalah malte, mußte sie unwillkürlich an ihre Heimatstadt Shara denken und wie anders dieser Tag verlaufen wäre, wenn Marrah dort die Volljährigkeit erreicht hätte. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, Lalah, und an Onkel Bindar und all die anderen Verwandten, die sie zurückgelassen hatte, und einen Moment lang verschleierten Tränen ihren Blick, bis sie die Spitze ihres Pinsels nicht mehr sehen konnte. Die Schlangenlinie wurde wacklig, und sie mußte einen Teil davon wieder abwischen und von vorn beginnen. Verstohlen wandte Sabalah sich ab, um ihren Kummer vor Marrah zu verbergen. Marrah kannte Shara nur aus Erzählungen. Es gab keinen Grund, weshalb sie ihre Mutter trauern sehen sollte, besonders nicht ausgerechnet heute, wenn ihr Herz mit Freude und Jubel erfüllt sein müßte.
Marrah stand geduldig da und ließ sich von ihr schmücken. Sie schloß die Augen und fühlte, wie sich ihr Körper unter den Händen der Frauen veränderte. Sie war nur ein menschliches Wesen, aber heute verwandelten sie sie in eine Göttin. Wenn sie diesen Tempel wieder verließ, würde sie ein Symbol all dessen sein, was fruchtbar und lebensspendend war, aber auch ein Symbol des Todes, denn der ewige
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