Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
schmutziges Armband, zerrissen und mit Schlamm beschmiert, und die Hälfte der Perlen und Muscheln fehlten. Beim Anblick des Armbandes wußte Stavan plötzlich, daß noch etwas weitaus Schrecklicheres passiert sein mußte, als er sich jemals hätte ausmalen können.
»Wo hast du das her?« flüsterte er.
Keshna sagte nichts. Sie blickte ihm nur unverwandt in die Augen und ließ das Armband in seine Hand fallen. Stavan hielt es einen Moment fest, während er die kleinen Perlen befühlte. Eine blaue war dabei, die er selbst ausgesucht hatte, und eine gelbe von Marrah. Die winzigen weißen, spiralförmigen Schneckengehäuse waren ein Geschenk von Lalah gewesen, und Bindar hatte den kleinen roten Fisch aus Ton geformt. Es gab nur noch ein solches Armband wie dieses in Shara. Das andere, eine geringfügige Abwandlung, schmückte Lumas Handgelenk. Dieses hier gehörte Keru.
Eine Weile starrte Stavan auf das Armband, während er verzweifelt versuchte, es in etwas anderes zu verwandeln; aber die gerissene Lederschnur und die schmutzigen Perlen sprachen eine so deutliche Sprache, als hätten sie Zungen. Da Hiknak nicht sprechen konnte und Keshna sich weigerte, ihm zu erzählen, was vorgefallen war, hatte er keine Ahnung, ob Keru tot oder noch am Leben war; aber der Gedanke, daß der Junge tot sein könnte, brachte alle Furcht in ihm zum Schweigen.
Das einzige, was er jetzt noch fühlte, war namenloser Haß: Haß auf die Feiglinge, die Arang entführt und möglicherweise seinen Sohn getötet hatten; dann Haß auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war, in seiner Wachsamkeit nachzulassen.
Er schob das Armband in seine Tasche, hievte sich Hiknak über die Schulter, packte Keshna an der Hand und eilte heimwärts. Der Wald wurde bald von offenen Feldern abgelöst, doch Stavan machte sich keine Gedanken mehr darüber, ob ihn die Fährtensucher entdecken könnten. Sobald sie aus dem Wald heraus waren, rannte er, so schnell er konnte, während er unter dem Gewicht von Hiknak stolperte und Keshna hinter sich herzog. Der üppige grüne Weizen bog sich zu seinen Seiten und schwankte wie Federgras in der milden Brise. All die Schönheit der Göttin lag in den wogenden Feldern, aber Stavan war blind dafür.
Als er sich den weißgetünchten Mutterhäusern näherte, sah er die Stadt, wie die Nomaden sie sehen würden – völlig ungeschützt auf allen Seiten, lediglich von einem lächerlichen Riedgraszaun umgeben, nirgendwo auch nur ein Wachtposten – und er dachte bitter, daß ihn das Leben unter Marrahs Leuten regelrecht verweichlicht hatte. Er hatte sogar schon angefangen, wie sie zu denken: daß die Welt ein friedlicher Ort sei.
Aber das Böse existierte natürlich – das Böse, das aus den Wäldern hervorstürzte; das Böse, das ihm seinen Sohn genommen hatte. Daß das Böse in menschlicher Gestalt daherkam, machte keinen Unterschied, und als er in Sichtweite der Mutterclans kam, die auf den Feldern arbeiteten, und ihre alarmierten Schreie bei seinem Anblick hörte, schwor er sich, von nun an immer wachsam und gewappnet zu sein.
Auf seinem Weg in die Stadt fand er sich von klagenden Sharanern umringt. Er hatte sie so knapp wie möglich über die Ereignisse informiert: daß ein Nomadentrupp aus dem Wald galoppiert war, daß die Krieger Arang entführt, Hiknak bewußtlos geschlagen und auch Keru entführt oder vielleicht sogar getötet hatten. Die Menschenmenge um ihn herum wuchs ständig, und alle erhoben vor Schreck ihre Stimmen auf einmal.
»Ein Pferd«, bat er immer wieder. »Bringt mir ein Pferd, rasch! « Aber die Leute schienen völlig verwirrt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund machte keiner Anstalten, ihm Hiknak abzunehmen, und keiner von ihnen setzte sich in Bewegung, um ein Pferd zu holen. Sie folgten ihm nur mit lautem Wehgeschrei und machten soviel Lärm dabei, daß Stavan selbst kaum mehr denken konnte.
Als er schließlich zu dem zentralen Versammlungsplatz kam, wo er Keshna in die Obhut der alten Blentsa gab und Hiknak vorsichtig unter einem der Sonnensegel niederlegte, fand er die Erklärung für das seltsame Verhalten der Sharaner. Es gab keine Pferde mehr. Die gesamte Herde – alle fünfzehn Tiere – wurde seit dem Mittag vermißt.
Jedes Kind aus der Steppe hätte gewußt, daß sie ganz einfach gestohlen worden waren, doch auf diesen Gedanken waren die Sharaner offenbar gar nicht gekommen. Sie hatten auf eher beiläufige Weise nach ihnen gesucht, so wie man vielleicht nach einem verlorenen Schaf
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