Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
oder einer verirrten Kuh suchen würde.
Als Stavan erfuhr, daß kein einziges Pferd übriggeblieben war, fühlte er sich plötzlich, als hätte er beide Beine verloren. Soweit er wußte, gab es in all den Mutterländern keine Pferde außer denjenigen, die sie damals aus der Steppe mitgebracht hatten. In wenigen Augenblicken, dachte er, wird Marrah erscheinen, und ich werde ihr sagen müssen, daß ihr Bruder entführt wurde und unser Sohn vielleicht tot ist. Schließlich werde ich hinzufügen müssen, daß wir uns zu Fuß an die Verfolgung der Bastarde begeben werden, die das alles auf dem Gewissen haben.
9. KAPITEL
Mit Stavans Nachricht, daß Arang und Keru von den Nomaden verschleppt worden waren, veränderte sich Marrahs Leben für immer. Noch am selben Nachmittag verließen sie und Stavan und Dalish die Stadt, um die Nomadenkrieger aufzuspüren und ihre Lieben zu befreien.
Sie waren mit Messern bewaffnet, die eigentlich dazu dienten, Tiere zu häuten, und mit Bögen, die eher für die Jagd auf Wild taugten als für den Kampf gegen berittene Krieger; der Wald erstreckte sich grenzenlos vor ihnen; Keru konnte womöglich schon tot sein, und selbst wenn sie ihn und Arang tatsächlich unverletzt finden sollten, würden sie den Nomaden zahlenmäßig wahrscheinlich hoffnungslos unterlegen sein. Doch ihre Chancen hätten noch so schlecht stehen können, ihr Vorhaben war unwiderruflich.
»Wir warten, bis sie sich in Sicherheit wiegen«, versicherten sie sich gegenseitig. »Dann schleichen wir in ihr Lager und holen Arang und Keru heraus.« Sie sagten einander nicht, daß sie lieber sterben würden, als untätig herumzusitzen. Sie dachten nicht weiter über die Tatsache nach, daß die Nomaden Pferde hatten und sie nicht. Sie hatten schon andere Schicksalsschläge zusammen durchgemacht. Einmal, als man sie an Pfosten am Rande von Zuhans offenem Grab gefesselt hatte, wären sie um ein Haar Seite an Seite ausgelöscht worden. In gewisser Weise kannte jeder die Gedanken des anderen so gut, als ob sie ein gemeinsames Herz besäßen. Dalish brauchte nicht mit Worten zu sagen, daß ihr Keru und Arang so lieb und teuer waren wie die Kinder, die zu bekommen ihr niemals vergönnt gewesen war; Stavan brauchte nicht zu erklären, wie sehr er von Schuldgefühlen und Wut gepeinigt wurde, weil er versagt hatte in seiner Wachsamkeit. Und Marrah brauchte nicht zu schluchzen, daß sie ihren Bruder und ihren kleinen Sohn um jeden Preis zurückhaben wollte.
Sie strebten geradewegs zu der Lichtung im Wald, nahmen die Spur der Nomaden neben der gefällten Eiche auf und folgten ihr in bitterem Schweigen, während sie sich in aller Eile vorwärtsbewegten. Außer Waffen trugen sie nur Feuersteine bei sich, ein wenig Dörrfleisch als Proviant und ein zusätzliches Paar Sandalen für jeden.
Die Hufabdrücke waren deutlich zu erkennen, und sie konnten die Fährte den ganzen Nachmittag hindurch bis zum Einbruch der Dämmerung gut sehen; doch als die Schatten der Bäume miteinander zu verschmelzen begannen und die ersten Eulen erschienen, waren sie gezwungen, eine Rast einzulegen. Sie krochen ins Gebüsch, breiteten ihre Umhänge aus und schliefen Seite an Seite aus Gründen der Sicherheit, wie Tiere im Unterholz versteckt; es bestand nicht der geringste Zweifel, daß die Nomaden weit voraus waren und sich ihr Vorsprung ständig vergrößerte.
In jener Nacht hatte Marrah den ersten einer Reihe von Träumen von Keru, die sie in den folgenden Nächten quälen sollten. Sie träumte, sie sähe ihn auf sich zulaufen, eine fremdartige gelbe Blume in der Hand. Die Blüte war fast so groß wie seine Faust, und in ihrer Mitte brannte etwas Helles, Leuchtendes, von der Farbe von Blut. Arang lief ein Stück hinter Keru und tanzte fröhlich, während er einen weichen grünen Schal wie einen Rauchring um seinen Körper wirbeln ließ.
Als sie die beiden lebendig und wohlauf vor sich sah, erfüllte Marrah überschwengliche Freude. Blut strömte in ihr Gesicht, ihre Finger prickelten, und ihr war zumute, als ob sie sich in die Lüfte schwingen und fliegen könnte wie der Vogel, nach dem sie benannt war. Ja! dachte sie glücklich. Wir haben es geschafft. Hier sind sie, gesund und in Sicherheit! Aber natürlich sind sie das. Dieser Unsinn von einem Nomadenüberfall war nichts weiter als ein böser Traum. Wie dumm von mir, mich so zu ängstigen.
»Keru, Liebling!« jubelte sie.
»Mama! « rief er. Er lachte, der fröhliche, kleine Spitzbub, und warf ihr die
Weitere Kostenlose Bücher