Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Blume zu; doch als sie die Hand ausstreckte, um sie aufzufangen, glitten die Blütenblätter durch ihre Finger, und sie fühlte, wie etwas sie stach. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und beugte sich vor, um Keru in ihre Arme zu ziehen, aber bevor sie ihn berühren konnte, verschwand er jählings.
» Keru! « rief sie verzweifelt, » komm zurück!« Doch es war nichts mehr da außer einer verwelkten Blume und einem Paar kleiner, schlammiger Fußabdrücke, wo er gestanden hatte; als sie sich zu Arang umdrehte, um ihn nach Keru zu fragen, war auch Arang verschwunden.
Sie wachte auf, zähneknirschend, in kalten Schweiß gebadet und schluchzend. Einen flüchtigen Moment lang hatte sie keine Ahnung, wo sie war oder warum sie auf dem feuchten Waldboden zwischen Dalish und Stavan lag. Dann kehrte die Erinnerung zurück, und Schmerz und Enttäuschung füllten ihren Magen wie ein schwerer Stein, drückten sie nieder und beraubten sie allen Mutes. Sie wollte Arang zurückhaben, lebendig und unversehrt, doch Arang war wenigstens ein erwachsener Mann, der sich verteidigen und womöglich sogar fliehen konnte – aber was wurde aus Keru?
Ich hasse die Nomaden, dachte sie. Früher verabscheute ich sie schon, als sie die Shambahner töteten und mich und Arang gefangennahmen. Sie waren mir zuwider, als sie Akoah ermordeten und die Sklavinnen strangulierten. Aber im Grunde habe ich nicht wirklich gewußt, was abgrundtiefer Haß ist, bis sie mir meinen Sohn genommen haben.
Sie lag da, schmeckte die Bitterkeit ihrer Ohnmacht.
Jetzt
wollte sie Keru zurückhaben, nicht erst morgen oder später. Sie wollte ihn in ihren Armen halten und ihm sagen, daß alles vorüber war und er nichts mehr zu fürchten brauchte, wollte seinen warmen kleinen Körper an ihrem spüren und den frischen Duft seines Haares riechen. Keinen Moment zweifelte sie daran, daß er noch am Leben war. Er war irgendwo da draußen, völlig verängstigt und von Sehnsucht nach seiner Mutter erfüllt; aber mit der Hilfe der Göttin, Mutter aller Mütter, würde sie ihn nicht nur finden, sondern auch dafür sorgen, daß die Männer, die ihn entführt hatten, ihre Tat mehr als bereuten.
Marrah griff nach dem kleinen Lederbeutel, den sie stets an ihrem Gürtel bei sich trug, löste die Schnur und tastete nach den Tonkugeln von getrocknetem Donner, die ihr die Priesterinnen von Nar vor so langer Zeit geschenkt hatten. Sie wußte, daß sie einen gewaltigen Lärm erzeugen würden, wenn sie sie in ein Feuer warf. Vielleicht konnte sie damit die Pferde der Nomaden so erschrecken, daß sie in Panik davonrannten, vielleicht ...
Sie döste wieder ein und träumte von einem Dutzend verschiedener Unternehmungen, Arang und Keru zu retten; doch am nächsten Morgen, als sie aufwachte, war die Fährte nicht mehr frisch. Die Ränder der Hufabdrücke begannen zu verwischen; Wasser war in die Vertiefungen gesickert, der Wind hatte Blätter und abgebrochene Zweige darübergeweht, und hier und da hatten ein Reh oder ein Kaninchen ihre Spuren über jenen der Krieger hinterlassen.
»Sie bewegen sich erheblich viel schneller vorwärts als wir«, sagte Dalish. Und das taten sie tatsächlich – ungefähr fünfmal so schnell.
Marrah kniete nieder und ließ ihre Finger über den getrockneten Schlamm gleiten, als könnte sie durch die Berührung erfahren, wo Keru war, aber der Schlamm war stumm und kalt unter ihren Händen. Der Haß brannte nun lichterloh in ihr. Seit ihrer Kindheit hatte man sie in dem Glauben erzogen, daß menschliches Leben heilig war. Jetzt, zum allerersten Mal, hatte sie das Gefühl, daß es ihr eine Genugtuung wäre, zu kämpfen und zu töten.
Sie wanderten den größten Teil des Tages, sprachen wenig und legten immer nur dann eine kurze Rast ein, wenn sie zu erschöpft waren, um weiterzulaufen. Gegen Abend kam ein starker Wind auf, und der Himmel verfärbte sich bleigrau.
»Es sieht nach Regen aus«, murmelte Dalish.
Marrah sagte nichts. Sie beobachtete, wie der Himmel immer dunkler wurde, und nahm den feuchten Geruch drohenden Regens in der Luft wahr. Bitte laß es kein Unwetter sein, betete sie stumm. Bitte laß nicht zu, daß die Fährte der Krieger vom Regen weggewaschen wird. Aber vielleicht hörte die Göttin ja nicht mehr auf ihre Gebete. Der Regen kam trotzdem, eine Folge abrupter Schauer, die sie bis auf die Haut durchnäßten und frösteln ließen.
In jener Nacht lagen sie wieder in einem dichten Gebüsch, während sie zuhörten, wie die Regentropfen auf
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