Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
ihm auf, während Tränen über ihre Wangen strömten. Sie hatte die Stute wie eine Schwester geliebt.
»War es ein Opfer?«
Er nickte. »Wahrscheinlich.« Er ging neben ihr in die Hocke. »Ich kann mir vorstellen, daß sie Han damit für den erfolgreichen Überfall danken wollten, aber sie haben die Tiere eigentlich nur abgeschlachtet. Ich würde sagen, nach dem Anblick hier zu urteilen, müssen sie in Eile gewesen sein.«
Einen Moment saß Marrah da und betrachtete traurig ihre Stute. »Ich werde ein bißchen von Eorus Mähne abschneiden.« »Warum?«
»Um ein Armband daraus zu flechten. Als Andenken an sie.« Sie holte ihr Messer hervor und schnitt ein paar Strähnen braunen Pferdehaars ab.
Als sie fertig war, nahm Stavan ihre Hand, zog sie hoch und führte sie zurück in den Wald. Sie standen einen Moment lang im Schatten einer gewaltigen Eiche. »Es kann sein, daß die Fährte von hier ab nicht mehr so leicht zu verfolgen ist«, erklärte er. »Ich habe den Verdacht, wenn wir uns umsehen, finden wir heraus, daß sie sich in kleine Gruppen aufgeteilt haben. Das ist die Taktik der Hansi: Achte darauf, verschiedene Fährten zu legen, und dein Feind wird nicht mehr wissen, welcher er folgen soll. Die zusätzlichen Pferde hätten sie nur behindert, deshalb haben sie sie Han geopfert.«
Marrah erwartete, daß er das Zeichen zum Aufbruch gäbe, doch Stavan blieb stumm, als fehlten ihm die Worte.
»Dalish«, rief er nach einer Weile.
Dalish, die gerade ihre so geliebte Stute beweinte, wandte sich ab und kam langsam über die Lichtung, wobei sie sich vorsichtig einen Weg um die Kadaver herum bahnte. Als die drei beisammenstanden, nahm Stavan Marrah rechts an der Hand und Dalish links.
»Wir müssen noch etwas tun, bevor wir weitergehen.« Er hielt inne, preßte die Lippen zusammen, und seine Augen verschleierten sich. »Wir müssen noch nach Keru suchen.«
Taumelnd riß Marrah ihre Hand aus seiner. »Was redest du da! «
»Dies sieht ganz nach einem Opfer aus.« Seine Stimme brach, er blickte auf die Pferde, die vielen Blutlachen und die summenden Fliegen. »Wenn es so war, dann haben die Krieger Han vielleicht mehr als nur Pferde geopfert. Ein erstgeborener Sohn wäre ...«
»... die wertvollste Opfergabe!« schrie Dalish entsetzt.
Marrah wollte kein Wort mehr hören. Sie wirbelte herum, rannte zu der Lichtung zurück und warf sich in rasender Hast zwischen die toten Pferde. Dalish suchte auf der einen Seite, Stavan auf der anderen. Manchmal packten sie die Tiere an ihren kurzen, blutbefleckten Mähnen und hoben ihre Köpfe, um zu sehen, ob Keru darunterlag; manchmal zerrten sie alle drei gemeinsam an einem der Leiber und keuchten vor Anstrengung, während sie das schwere Tier beiseite schoben.
Bis sie die gesamte Lichtung abgesucht hatten, waren sie über und über mit Schmutz und Pferdeblut bedeckt, doch Marrah kümmerte sich nicht darum. Ihr schwindelte vor Erleichterung, Kerus Leichnam war nirgendwo zu finden. Es gab zwar reichlich tote Pferde, aber keinen kleinen Jungen, der mit aufgeschlitzter Kehle in einer Blutlache im Schlamm lag.
Dalish griff nach Marrahs Hand, und die beiden jungen Frauen knieten nieder und küßten den Erdboden. »Große Mutter aller Mütter«, rief Marrah selig, »wir danken dir! Wir danken dir!«
Sie waren gerade dabei, sich wieder auf die Füße zu erheben, als Stavan zu ihnen kam, einen Gegenstand in der Hand. Es handelte sich um einen feingearbeiteten Dolch, mit einer scharfen Klinge und einem Knochenheft, in das zuckende Blitze und Clanzeichen eingeschnitzt waren. Er erklärte, er hätte den Dolch in der Mitte der Lichtung gefunden, mit der Klinge voran im Boden steckend.
Alle drei wußten, ein im Boden steckender Dolch bedeutete das Hansi-Zeichen für den Gott Han, und dies bestätigte ihre Vermutung eines Opferrituals; aber Stavan hatte ihnen noch etwas zu sagen, etwas, was nicht einmal Dalish hätte wissen können.
»Dies hier ist Changars Dolch«, verkündete er. »Ich erkenne die Schnitzereien wieder.« Er zeigte auf die zuckenden Blitze. »Ihr wißt, was das heißt, nicht wahr?«
»Aber Changar kann unmöglich hier gewesen sein. Er ist tot.« Marrah wandte sich an Dalish. »Du hast ihn doch selbst in Zuhans Grab hinunterstürzen sehen; du hast gehört, wie sein Körper auf den Steinen aufschlug. Er muß sich das Genick gebrochen haben. Zwar nannte er sich Schamane und Wahrsager, aber er war genauso sterblich wie wir alle. So einen Sturz kann er nicht überlebt
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