Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
haben.«
»Er
muß
ihn überlebt haben«, erwiderte Dalish. »Wenn er gestorben wäre, hätten sie die Klinge seines Dolches zerbrochen und die Teile mit ihm begraben.«
»Dalish hat recht.« Stavan wischte den Schmutz von der Klinge und steckte den Dolch in seinen Gürtel. »Der Dolch eines Mannes wird grundsätzlich bei seinem Tod zerbrochen und mit ihm begraben, es sei denn, er verliert ihn in einer Schlacht oder bietet ihn Han als Opfergabe dar. Es ist nicht gut, seinen Dolch zu verlieren. Ich glaube, ich werde Changars Dolch behalten, bis ich das Vergnügen habe, ihn ihm selbst zurückzuerstatten.«
Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Sie hoben schweigend ihre Proviantsäcke auf und gingen um den Rand der Lichtung herum, bis sie die Fährte der Nomaden wiederfanden. Obwohl die Anzahl der Pferde jetzt nur noch halb so groß war, fiel es ihnen immer noch leicht, den Hufabdrücken zu folgen, und nach einer Weile entdeckten sie die Asche mehrerer Lagerfeuer.
Stavan stocherte mit einem Stock in der Asche herum. »Kalt«, erklärte er. »Aber nicht verstreut.« Er drehte sich zu Marrah um. »Verlier nicht den Mut. Die Tatsache, daß sie angehalten haben, um mehrere Feuer zu entfachen, weist darauf hin, daß sie keine Attacke mehr im Sinn haben. Sie reiten langsam, lassen sich Zeit, und ich weiß auch, warum.« Er tätschelte Changars Dolch. »Sie haben Changar bei sich, und er ist kein junger Mann mehr. Kein rohes Fleisch und kalte Lager für ihn. Er hat schon immer eine Sonderbehandlung beansprucht. Außerdem müssen sie auf Keru Rücksicht nehmen. Man kann von einem Vierjährigen nicht verlangen, daß er tagelang ununterbrochen im Sattel sitzt. Sie müssen dafür sorgen, daß er regelmäßig zu essen bekommt und ausruhen kann.«
Marrah durchzuckte ein freudiger Stich bei seinen Worten. »Dann glaubst du also, sie kümmern sich um ihn?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja – auf ihre Art«, erwiderte er gedehnt. »Er ist ein wertvoller Besitz.«
Das Wort »Besitz« tat weh. Sie hätte es ihm am liebsten zurückgeschleudert, wollte schreien, daß Keru kein Kochtopf oder Schaf war, aber im Grunde hatte Stavan recht. Genau das würde Keru für die Nomaden sein – ein wertvoller Besitz. Da sie den Jungen nicht geopfert hatten oder getötet, als sie Hiknak überfielen, mußten sie glauben, er sei der Sohn einer wichtigen Persönlichkeit – vielleicht Stavans Sohn, aber wohl eher der Vlahans.
Bei den Hansi waren Frauen und Kinder das Eigentum eines Mannes, nichts anderes als seine Pferde. Die Krieger würden für Keru sorgen, wie sie für ein edles Fohlen sorgten. Dieser Umstand hätte Marrah natürlich trösten können – dennoch war es unerträglich, sich vorzustellen, wie ihr kleiner Junge gefüttert und nachts zu Bett gebracht wurde von Männern, die ihm in einer anderen Situation ohne Skrupel den Schädel eingeschlagen hätten.
Sie half Stavan und Dalish, den Lagerplatz nach weiteren Hinweisen abzusuchen, aber sie fanden nichts Auffälliges, nur den üblichen Abfall: abgenagte Knochen, Eingeweide und Federn von gerupften Vögeln, Dunghaufen, eine alte Fußfessel und ein Stück Hanfschnur, das vielleicht dafür benutzt worden war, einen Pfeil zu reparieren. Überall forschten sie nach Kerus Fußspuren, aber der Boden war zu aufgewühlt, um die Abdrücke eines Kindes auszumachen.
Ein Baum sah jedoch danach aus, als wäre etwas – oder jemand –daran gefesselt gewesen. An mehreren Stellen wies die Rinde Spuren auf, wo ein Seil gescheuert hatte, und etwas war mit einem scharfen Stein in den Stamm geritzt worden. Zuerst dachte Marrah, die Kratzer könnten eine Botschaft von Arang sein, doch als sie genauer hinschaute, sah sie, daß es nur die Art von Kratzern war, die ein Krieger in einem müßigen Augenblick mit der Spitze seines Dolches hinterlassen würde.
Als sie sich bückte, um zu sehen, ob sie noch irgend etwas von Bedeutung finden konnte, stand Stavan plötzlich hinter ihr, preßte ihr eine Hand auf den Mund und brachte seine Lippen dicht an ihr Ohr.
»Gib keinen Laut von dir! « flüsterte er. Sie versteifte sich überrascht und richtete sich auf, um Dalish in der Nähe stehen zu sehen. Dalishs tätowierte Wangen waren bleich, und sie hatte die Stirn in Falten gelegt – also konzentrierte sie ihre gesamte Kraft und Aufmerksamkeit auf ihr Gehör. Hör doch! sagte sie in Lippensprache.
Marrah horchte. Einen Moment war nichts zu vernehmen außer dem Rauschen des Windes in den Baumkronen und dem
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