Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
fallen und tauchte unter, um dem Tau Hand über Hand zu folgen. Es führte sie abwärts in die kalte Stille, die unter der sturmgepeitschten Oberfläche lag. Sie schwamm, bis ihre Ohren zu schmerzen begannen und ihre Lungen sich anfühlten, als würden sie jeden Moment explodieren. Sie tauchte tiefer und immer tiefer hinunter, und am Ende des Seils – im Wasser, so dunkel, daß sein Körper wie ein heller, verschwommener Fleck wirkte – fand sie Kandar.
Sie schnitt ihn mit ihrem Messer los, zerrte ihn aus der Schlinge heraus und brachte ihn an die Wasseroberfläche, indem sie ihn an den Haaren mit sich zog. Ihr Messer hatte sie weggeworfen, so daß sie sich mit ihrer freien Hand an dem Tau festhalten konnte.
Keuchend nach Atem ringend, tauchte Luma auf, trat ein paarmal Wasser, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und zerrte dann mit aller Kraft an ihrer Last, um Kandars Kopf über Wasser zu ziehen. Er war so schwer wie drei Säcke mit nassem Weizen, aber sie hievte ihn auf das kieloben treibende Boot, schob und stieß mit einer Kraft, von der sie nicht geahnt hatte, daß sie sie besaß, und drückte ihm das Wasser aus den Lungen, so gut sie konnte. Dann schlug sie ihm kräftig ins Gesicht und befahl ihm, wieder zu sich zu kommen. Als er Salzwasser erbrach, befahl sie ihm, noch mehr davon zu erbrechen und sie nicht hilflos ihrem Schicksal zu überlassen, indem er sich in den Tod flüchtete. Nur ein Feigling wählt den Tod, erklärte sie ihm. Wenn er sie hier mitten auf dem Meer im Stich ließe, würde sie ihn bis in alle Ewigkeit verachten.
»Stirb, und ich werde dich hassen, bis das Meer bis auf den Grund austrocknet!« brüllte sie ihn an. Später wußte sie beim besten Willen nicht mehr, warum sie so wütend gewesen war, aber sie bereute es nicht. Der Zorn war ihre Rettung. Er rettete ihnen beiden das Leben.
Nacht, ein wolkenverhangener Himmel und eine steife Brise, aber kein Regen mehr. Der Sturm war abgeflaut, und obwohl die Wellen noch immer gegen das gekenterte Boot schlugen, rollten sie nicht länger darüber hinweg.
»Luma?« murmelte Kandar.
» Ja?«
»Ich fühle mich schrecklich.«
»Du wärst fast ertrunken.«
»Das hast du mir schon einmal gesagt, nicht?«
» Ja.«
»Wie oft?«
»Zwei- oder dreimal, ich weiß nicht mehr genau. Wie geht es dir?«
»Mein Hals tut weh.«
»Das kommt von dem Salzwasser. Man bekommt einen wunden Hals, wenn man zuviel davon schluckt.« Er machte Anstalten, sich aufzusetzen, aber sie hinderte ihn daran. »Nicht«, warnte sie ihn, »sonst fällst du herunter und ich muß wieder nach dir tauchen.« Kandar blickte sie an und bemerkte, daß Luma nicht neben ihm auf dem Bootsrumpf lag, sondern im Wasser war und sich an dem Holz festklammerte.
»Warum bist du noch im Wasser?«
»Das Boot geht unter, wenn wir uns beide gleichzeitig hinaufziehen.« Sie fröstelte, und er hörte, wie ihre Zähne klappernd aufeinanderschlugen. »Ich kann schwimmen und du nicht, deshalb bin ich eben diejenige, die im Wasser bleiben muß.«
»Bist du krank?«
»Nein, mir ist nur furchtbar kalt. Es ist zwar Sommer, aber diese Brise fühlt sich an, als käme sie direkt aus dem Eis. Meine Arme sind taub, und meine Beine fühlen sich an wie zwei Fische. Aber kümmere dich nicht darum. Ich habe nämlich eine gute Nachricht für dich. Hör doch! «
Er lauschte und hörte ein gedämpftes, rhythmisches Rauschen. Es schien vor ihnen zu sein, ein klein wenig zu ihrer Linken. »Was ist das?«
»Ich glaube, das ist das Rauschen der Wellen, die sich am Strand brechen. Es wird allmählich lauter. Ich glaube, die Flut treibt uns langsam Richtung Strand.«
»Wenn das stimmt, dann können wir hier nicht einfach liegen. Nun komm schon! Wir müssen dieses Boot zum Ufer schieben!«
Luma fröstelte. »Du schiebst«, erwiderte sie. »Mir ist zu kalt. Und tu mir einen Gefallen: Denk dran, die Beine zu strecken. Fang nicht wieder an, wie ein gestrandeter Fisch herumzuzappeln. Ich habe mich für heute genug im Kreis bewegt.«
Kandar hörte die Furcht aus ihrer Stimme. »Kannst du noch so lange durchhalten und dich am Boot festklammern, bis ich uns zum Strand manövriert habe?«
»Ich weiß nicht. Mit meinen Fingern scheint irgend etwas nicht zu stimmen. Sie rutschen immer wieder ab.«
Kandar brauchte lange, um das Boot zum Strand zu befördern – wie lange, wußte Luma nicht, weil die ganze Zeit über der kalte Wind wehte und sie immer erbärmlicher fror. Zuerst zitterte sie vor Kälte am ganzen
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