Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
konnte: Da es sowohl töricht als auch überaus gefährlich wäre, den Worten dieser Fremden zu trauen, würden die Schlangen nicht in den Norden reiten. Aber jemand mußte sich aufmachen, um herauszufinden, ob es wirklich ein Nomadenlager bei Mahclah gab, und diese Person – oder eher, diese Personen – würden Luma und Keshna sein.
Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Erstens waren beide erfahrene Spioninnen. Zweitens sprachen sie perfekt Hansi. Drittens waren beide so groß und kräftig, daß man sie ohne weiteres für Nomadenkrieger auf der Suche nach einem Häuptling halten konnte. Solche umherziehenden Krieger traf man häufig. Mit ein wenig Glück würden die beiden in der Lage sein, es bis zum Rauchfluß zu schaffen, ohne in Kämpfe verwickelt zu werden oder unliebsame Aufmerksamkeit zu erregen. Einmal dort angekommen, würden sie feststellen können, ob Changar und Keru tatsächlich bei Mahclah kampierten; und wenn dem so war, würden sie die Nachricht nach Shara zurückbringen. Falls die Gefahr nicht zu groß war, würden sie vielleicht sogar eine Möglichkeit finden, mit Keru zu sprechen. Der Sommer war erst zur Hälfte vorbei, und es blieb noch immer genug Zeit, eine Rettungsmannschaft auszuschicken – immer vorausgesetzt, Keru wollte überhaupt gerettet werden.
An dem Abend vor ihrem Aufbruch half Kandar Luma, sich das Haar abzurasieren. Dann streckte sie sich auf der Schlafmatte aus und lag ruhig da, während er mit schwarzer und roter Farbe Tätowierungen auf Gesicht und Arme malte. Als Luma über und über mit Wölfen, Sonnensymbolen und Blitzen bedeckt war, zog er sie an sich und hielt sie in seinen Armen.
»Ich weiß, ich bin derjenige, der dir und Keshna befohlen hat, diese Reise zu unternehmen«, sagte er, »aber ich wünschte, ich könnte euch begleiten. Es gibt Zeiten, da hasse ich es, euer Anführer zu sein.«
»Ohne dich sind wir sicherer.« Luma nahm seine Hand und verflocht ihre Finger mit seinen. »Keshna und ich können als Nomaden durchgehen, du niemals. Man braucht sich ja nur deine breite Brust anzusehen.« Sie berührte ihn zärtlich. »Oder diese kräftigen, kurzen Beine. Dein ganzer Körper verrät, daß du ein Mann des Muttervolkes bist.«
»Geht keine unnötigen Risiken ein«, warnte er sie. »Und laß dich von Keshna nicht zu irgendwelchen verrückten Plänen überreden.«
Sie sprachen nicht offen über Gefahren und Tod. Es brachte Unglück, solche Dinge zu erwähnen. Aber ihr Liebesspiel war in jener Nacht besonders leidenschaftlich. Als sie einander liebkosten und zusammen kamen, konnten sie die Angst hinter den Zärtlichkeiten des anderen spüren. Ihre Liebe war wie der kieloben treibende Einbaum, an den sie sich geklammert hatten, und ihre Angst glich den Wellen, die gedroht hatten, über ihnen zusammenzuschlagen.
Komm gesund und wohlbehalten zu mir zurück,
sagte Kandars Körper. Und Lumas Körper erwiderte:
Ja, das werde ich.
Doch als sie sich an jenes wild schaukelnde Boot der Liebe klammerten, wußte keiner von ihnen, ob Luma überleben oder in den Tod gerissen werden würde.
15. KAPITEL
Mahclah
Luma und Keshna saßen auf ihren Pferden und blickten über das Flußdelta hinweg auf eine Reihe niedriger Klippen. Zwischen ihnen und den Klippen strömte der Hauptarm des Rauchflusses in majestätisch trägen Strudeln dahin und verzweigte sich in Dutzende von sumpfigen Nebenarmen. Der Schlamm des Deltas war von der Sorte, in der man bis über die Knie versank und hilflos steckenblieb; die Art von dunklem, zähem, fettem Morast, in dem gute Pferde strauchelten und sich die Beine brachen. An den gefährlichsten Stellen zog er jedes unvorsichtige Wesen in die Tiefe, das sich abseits der wenigen schmalen Pfade wagte, die zum Flußufer führten. Wenn man den Schlamm des Rauchflusses anfaßte, stiegen Schwärme von Insekten auf, und man bekam schwarze, klebrige Hände. Man konnte den Schlamm im Wasser schmecken wie Mehl in Suppe, und selbst aus einiger Entfernung roch er so streng wie verdorbener Fisch.
Als Luma ihren Blick über den Sumpf schweifen ließ, dachte sie, daß die Göttin Erde dieses Land speziell für ihre Vogelkinder erschaffen haben mußte. Direkt vor ihr bewegten sich zwei Graureiher durch das Schilfgras. Zu ihrer Linken fischte ein gemischter Schwarm von Weißstörchen, Silberreihern und Löffelreihern mit der Gelassenheit und Zuversicht von Vögeln, die niemals unter Futtermangel litten. Von dieser einen Stelle aus konnte sie Fischreiher,
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